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»Die Uraufführung der ›Electra‹ von Richard Strauß. Privattelegramm des ›Neuen Wiener Tagblatt‹«
in: Neues Wiener Tagblatt. Demokratisches Organ, Jg. 43, Heft 26, Dienstag, 26. Januar 1909, Rubrik »Theater, Kunst und Literatur«, S. 13

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
Die Uraufführung der »Electra« von Richard Strauß.
(Privattelegramm des »Neuen Wiener Tagblatt«.)
Dresden, 25. Jänner.

Unter ungeheurer Spannung ging heute die Uraufführung der längst erwarteten »Electra« von Richard Strauß in Szene. Die aus Berlin kommenden Züge brachten im Laufe des Tages einige hunderte Gäste, unter denen sich zunächst die Referenten sämtlicher Tageszeitungen sowie zahlreiche Kunstfreunde befanden, ein Beweis, welch großer Beliebtheit sich der Komponist in Berlin, der Stätte seiner ständigen Wirksamkeit, erfreut. Aber auch aus allen andern Städten Deutschlands sowie aus Paris und dem übrigen Auslande waren viele herbeigeeilt, besonders Theaterdirektoren, Sänger und Dirigenten, um der Premiere beizuwohnen. So sah man heute im Königlichen Opernhaus ein internationales Publikum wie wohl selten zuvor.

Der Umstand, daß der Textdichter Hugo v. Hofmannsthal ein Oesterreicher ist, hat es gefügt, daß auch aus Wien viele gekommen waren. Diejenigen, die schon Samstag eingetroffen sind, um die Generalprobe mitzumachen, erlebten eine Enttäuschung; denn die Probe hatte bereits Freitag abend unter gänzlichem Ausschluß der Oeffentlichkeit stattgefunden. Die Hotels sind überfüllt, kaum daß man unterkommen konnte.

Das Publikum stand der Neuheit fremd gegenüber. Erst heute, am Tage der Uraufführung, wurden der Klavierauszug und der Text ausgegeben. Die Referenten, denen der Verleger Fürstner das Material schon zwei Tage früher in dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt hat, mußten sich verpflichten, bis zur Stunde der Aufführung nichts über das Werk verlauten zu lassen, was übrigens auch schwer gefallen wäre, denn ein Straußscher Klavierauszug ist fast ein Buch mit sieben Siegeln. Erst im Orchester ist der Komponist zu erkennen.

Entgegen der hier herrschenden Sitte, begann die Vorstellung um 8 Uhr abends. Schon lange vorher pulsierte um das Theater herum reges Leben. Es war eine Sensationspremiere, die selbst die Uraufführung der »Salome« in Schatten stellte. Punkt 8 Uhr betrat Generalmusikdirektor Ernst v. Schuch das Dirigentenpult. Atemlose Stille trat ein. Der Vorhang ging ohne Vorspiel sofort in die Höhe.

Die »Electra« ist ein echt Straußsches Werk. Diejenigen, die vermutet hatten, der Komponist werde griechisch kommen, waren auf dem Holzwege. Das neue Werk von Strauß ist in jeder Richtung von demselben Geiste erfüllt wie die »Salome«, deren Zwillingsschwester die »Electra« ist. In formaler Hinsicht leistete der Komponist auch diesmal das Unglaublichste. Die »Electra« ist ein Triumph des schärfsten Kunstverstandes. Gleich der erste Monolog der Electra entrollt das ganze Tönematerial, aus dem sich strahlend ein As-Dur-Satz heraushebt, der zuerst sehr gewöhnlich anklingt, sich dann aber zu einer schönen Melodie, zu der Melodie der Oper ausweitet. Strauß hat den Hofmannsthalschen Text im großen ganzen beibehalten, manches gekürzt, manches umgestellt, hie und da einiges neu gedichtet oder von Hofmannsthal dichten lassen. Gegen den Schluß setzte Strauß klugerweise ein wohlklingendes Duett und bleibt nun schon bei der Stange. Die Oper endigt mit einem ins äußerste Fortissimo gesteigerten reinen Dreiklang.

Die Dauer der Aufführung – es ist nur ein einziger Aufzug – betrug 1¾ Stunden. Das Publikum schien zunächst wie betäubt und erst nach einer Weile setzte der Beifall schüchtern ein. Heftiges Zischen in den rückwärtigen Reihen. Nun wächst aber der Beifall, er wird immer stärker, bis mit den Mitwirkenden Richard Strauß erscheint. Selbstverständlich wird der Komponist nunmehr oft und oft gerufen. Dann erscheint auch Schuch, der wirklich Bewunderungswürdiges geleistet hat, und wird mit dröhnenden Applaussalven empfangen. Richard Strauß selbst applaudiert von der Bühne herab ins Orchester. Hofmannsthal sitzt in einer Loge im ersten Rang und applaudiert den Mitwirkenden, die in der Tat Uebermenschliches zuwege gebracht haben. In der Titelrolle sah man Fräulein Krull, eine sehr sympathische junge Sängerin mit einer schönen Sopranstimme, die im äußersten Affekt zuweilen nicht recht ausreicht. Die Chrysotemis [sic] gab Fräulein Siems, eine Künstlerin mit glühender Stimme. Ihr fielen auch die schönsten Gesangspartien zu. Großartig gestaltete Frau Schumann-Heinck [sic] die Rolle der Klytämnestra, die allerdings eher darstellerisch zur Geltung kommt. Als Orest erschien Herr Perron, der seine nicht große Partie mit gewohnter Künstlerschaft erledigte. Alle andern Partien sind zu klein, um besprochen zu werden. Der Gesamteindruck, den man nach Hause mitnahm, war, daß Richard Strauß persönlich gefeiert wurde, sein Werk jedoch keinen besonderen Anklang fand. Wir kommen auf die Oper noch ausführlicher zu sprechen.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42022 (Version 2021‑09‑30).

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