Es ist beinahe 11 Uhr nachts; vor einer Stunde war die Vorstellung zu Ende: sie hatte genau eine Stunde zweiundvierzig Minuten gedauert. Es ist ganz gut, dass man das gleich feststellt, denn wie verschieden auch die Urteile lauten mögen, die soeben Hunderte von Zeitungskorrespondenten in alle Welt hinaustelegraphiert haben, darüber werden sich alle einig sein, dass die Vorstellung als solche eine ganz grossartige war, dass insbesondere das Orchester unter Schuch’s Leitung absolut Unübertreffliches leistete, und dass Schuch die richtigen Tempi hatte.
Muss es wirklich noch gesagt werden, dass mit der Ueberschrift die »Elektra« von Richard Strauss gemeint ist? Kaum nötig, denn diesen Hofmannsthalschen »Elektra«-Text zu komponieren, konnte keinem anderen Menschen einfallen. Kann nachträglich auch nicht einmal einem französischen Marineoffizier einfallen. Dieses Schauerdrama zu komponieren, kann nur jemandem in den Sinn kommen, der, auf der Suche nach dem Ungewöhnlichen, noch nicht Dagewesenen so ziemlich beim Unmöglichen angekommen ist. So etwas reizt aber wohl keinen komponierenden Menschen so sehr, wie unseren Richard Strauss, und wenn er dieses Mal auch das scheinbar Unmögliche noch möglich gemacht hat, so ist es ihm doch sicherlich gelungen, etwas ganz besonders Undankbares zu erwischen. Man halte sich [122] nur zunächst vor Augen, dass die Aufführung eine ganz ausserordentliche war, dass Strauss in der »Elektra«-Partitur ein noch grösseres Können niedergelegt hat, als damals in der »Salome«, dass der weitaus grössere Teil des glänzenden internationalen Publikums in der frohen Erwartung gekommen war, einem neuen Triumph der Straussschen Muse beizuwohnen, – und erfahre dann, dass der Beifall zum Schluss erst recht zögernd einsetzte, dass er erst wärmer wurde, nachdem die Darsteller erschienen und sich mit Verbeugungen bedankten, dass man sehr vernehmlich nach dem Dirigenten Schuch rief, ehe der Ruf nach Strauss gehört wurde. Wenn man das zusammenhält, wird man wohl einsehen müssen, dass »Elektra« bei ihrer heutigen Uraufführung trotz der allergünstigsten Umstände keinen durchschlagenden Erfolg erzielt hat. Wer wegen der vielen Hervorrufe, die sich das Publikum schon wegen der grandiosen Aufführung schuldig zu sein glaubte, dennoch etwas Durchschlagendes in dem Erfolge zu sehen glaubt, urteilt doch wohl etwas zu oberflächlich. Im übrigen wird die nächste Zukunft schon darüber Klarheit schaffen.
Die Gerüchte, die in den letzten Wochen über »Elektra«-Proben in Dresden, Berlin und anderwärts verlauteten, haben übrigens in manchen Dingen übertrieben. Dass man in bezug auf die Partitur, und besonders auch hinsichtlich der Instrumentation so geheim tat, nährte erst recht die weitverbreitete Neigung zu Uebertreibungen. Von den Schlagwerkzeugen werden wahre Mordsgeschichten erzählt. Unsinn! Man weiss, dass das Dresdner Opernhaus demnächst wegen Baufälligkeit gründlich renoviert werden soll, aber es steht heute Nacht, nach der »Elektra«-Aufführung, noch völlig unversehrt da. Es ist wirklich mit dem Orchesterlärm im ganzen genommen nicht ärger gewesen, als in der »Salome«, was ja immerhin ganz beträchtlich ist. Wohl aber kommt es einem nach dem ersten Hören so vor, als enthielte die »Elektra«-Partitur mehr lyrische Stimmung. Und ganz gewiss ist sie eine weitere grosse Steigerung der eigentlichen musikalischen Potenz dieses merkwürdigen Komponisten, nämlich seiner unglaublich schlagfertigen Charakterisierungsfähigkeit, seiner Virtuosität im Mischen von Orchesterfarben. Andere mischen diese Farben auch mit Virtuosität, aber bei Strauss werden sie mit einer Genialität aufgetragen, die durchaus spontane, nicht erst durch Reflexion erzielte Wirkung mit sich bringt. Wenn man gegen dieses lebensprühende Orchestergewebe dann aber die armen Singstimmen in der Partitur hält, möchte man fast behaupten, die »Elektra« würde eine überwältigende Wirkung machen, wenn die gequälten Geschöpfe auf der Bühne den Mund halten und das dramatische Orchestergedicht nur pantomimisch versinnbildlichen wollten. Uebrigens mag Strauss dazu gezwungen werden, wenn er auf dem Pfade bleibt, den er mit der »Salome« eingeschlagen und mit der »Elektra« noch ein Stück weiter gewandelt ist. Denn welche Sänger werden diese stimmlichen Verrenkungen schliesslich noch zu ertragen [123] vermögen? Er wird sich nach Ueber-Sängern umzusehen haben, und, weil es um deren Stimmen doch »zu schade« sein würde, sich mit Unter-Sängern begnügen müssen.
Seit Wagner pochen alle, die in seinen Fusstapfen wandeln, auf deutliche Aussprache, die sie absolut über die rein gesangliche Schönheit stellen. Von gesanglicher Schönheit ist natürlich in einer Strauss’schen Oper längst nicht mehr die Rede, aber wird deshalb etwa die Deutlichkeit des Wortes berücksichtigt? In der »Elektra« gibt es ganze Strecken, wo das »charakteristische« staccato-Stossen und ‑Schleudern der Silben kaum noch ein einzelnes Wort hier und da verständlich werden lässt. Wer hat etwa heute abend in der ersten Szene auch nur den Sinn dessen verstanden, was sich die Mägde am Brunnen zu sagen hatten? Freilich konnten auch solche, die nicht einmal den Text vorher gelesen hatten, begreifen, dass es sich um Elektra handelte, denn darüber liessen ja schon die Gesten der Mägde keinen Zweifel. Aber das ist doch kaum genug. Man hat den älteren Meistern so herbe Vorwürfe gemacht, weil sie über die »sangbare« Gestaltung die Deklamation der Worte vernachlässigten. Nun hätten wir also glücklicherweise beides, die sangbare Melodiegestaltung und die Deutlichkeit der Worte geopfert. In diesem Punkte ist Debussy einem Strauss weit voraus: er lässt nur noch psalmodieren, aber man versteht jedes Wort.
Tiefsinnige Betrachtungen darüber anzustellen, inwieweit das Hofmannsthalsche »Elektra«-Drama uns im griechischen Tragödien-Begriff Furcht und Mitleid einflösst, und ob die Musik von Richard Strauss diese Wirkung erhöht, vertieft, verbreitert oder verflacht, – dazu ist es heute nacht zu spät. Es ist fast 12 Uhr, und wenn der Setzer in Berlin das Manuskript nicht um 8 Uhr in Händen hat, wird der »Signale«-Leser übermorgen nichts über das Ereignis der Saison, über diese »Elektra«-Premiere erfahren. Es sei also nur noch erwähnt, dass es infolge der grässlichen Herbe des Stoffes doch länger dauert, ehe Strauss mit all seinem enormen Können den Zuhörer in die Stimmung hineinzwingt. Und wenn auch alles, was Elektra und Chrysothemis einander sagen, psychologisch tiefgründig ist, so folgt man ihnen doch nicht so leicht und gern, wie der lüsternen, versengende Sinnlichkeit ausstrahlenden Salome. Das ist’s, wo Richard Strauss, der Berechnende, sich doch verrechnet hat, das Liebeselement, gesundes oder perverses, fehlt im Elektra-Stoff, denn dass Chrysothemis sich Kinder wünscht, gehört weiter nicht zur Handlung, ist nur ein Stück psychologischer Motivierung ihres Charakters. Die dramatische Intensität der Szene zwischen Klytämnestra und Elektra ist dann aber unwiderstehlich. Als erstere machte Frau Schumann-Heink trotz einer grausamen stimmlichen Indisposition einen mächtigen Eindruck. Der Höhepunkt des Dramas ist aber doch wohl das Erscheinen des Orestes. Da zeigt Richard Strauss, dass er Feuer in den Adern hat, wenn es sich um Steigerungen handelt. Die musikalische Illustrierung [124] des Totschlagens hinter der Szene, besonders bei der Klytämnestra, ist enorm effektvoll, wird sich aber aller Wahrscheinlichkeit nach bei wiederholtem Hören ebensosehr als Kalkulation und nicht als Inspiration erweisen, wie jene unheimlichen Geräusche beim Cysternen-Tode des Jochanaan. Was aber den unheimlichen Schlusstanz der Elektra betrifft, so dürfte er aller Wahrscheinlichkeit nach als ein bedenklicher Antiklimax erkannt werden.
Noch einmal sei die Orchesterbehandlung erwähnt, die von Wohllaut (im höheren Sinne) strotzt. Im Punkte der Instrumentierung ist Strauss einfach ein Zauberer. Darüber und über seine Neigung, in den mehr lyrischen Momenten – des Kontrastes halber – fast bis zu banalen melodischen Phrasen seine Zuflucht zu nehmen, möge demnächst Eingehenderes gesagt werden.
Die Aufführung aber war eine derartige, dass man um Superlative verlegen ist, die entsprechend wären: kein Opernhaus der Welt könnte sie übertreffen, und es ist fraglich, ob man sie als Gesamtleistung irgendwo erreichen wird. Und Ernst von Schuch ist der Mann, dem für diese Tat der Lorbeer gebührt, und nach ihm sollte das ganze herrliche Orchester bekränzt werden. Von der Trägerin der Titelrolle, Frau Krull, lässt sich relativ nur das Allerbeste sagen, denn dass sie mit ihrer Erscheinung gegen die »hohlen Wangen« und »abgezehrten Arme« protestiert, dafür kann sie nicht [sic]; ebensowenig, dass ihre Stimme für die fanatische Elektra eigentlich zu fröhlich-gesund klingt. Welch eine Elektra würde Milka Ternina sein! Sehr schöne Stimmmittel und erkleckliches Temperament führte Margarethe Siems als Chrysothemis ins Gefecht. Perron sah vielleicht nicht jugendlich genug für den Orest aus, charakterisierte aber treffend.
Alles in allem: es war ein Abend, den man nicht so bald vergessen wird.