Schmid, Otto
»Die ›Richard Strauß-Woche‹ der Dresdner Hofoper. Zur Uraufführung der ›Elektra‹ am 25. Januar 1909«
in: Blätter für Haus- und Kirchenmusik, Jg. 13, Heft 6, Montag, 1. März 1909, S. 89–90

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
Die »Richard Strauß-Woche« der Dresdner Hofoper.
(Zur Uraufführung der »Elektra« am 25. Januar 1909.)

Man mag im einzelnen über den Berliner Meister denken[,] wie man will, man mag in ihm eine Übergangserscheinung erblicken oder mag ihn wie Ludwig Hartmann mit einem Blitz, wohl auch mit einem Kometen vergleichen, um damit das Phänomenhafte, das Exzeptionelle, Sensationelle als das Wesen seiner Kunst zu bezeichnen, das eine steht fest, er ist zum mindesten Deutschlands größter lebender Komponist. Das aber rechtfertigt allein die kühne Initiative, welche die Dresdner Hofoper zu seinen Gunsten ergriff. Als diese unter Graf Nicolaus Seebach und seinem musikalischen Generalissimus v. Schuch am 21. November 1901 die »Feuersnot« aus der Taufe hob, da rief mancher ob der derbsinnlichen Schlußpointe des Werkes und dessen musikalischer Artung: shoking [sic]! Und heute! Kritik, Fachmusiker und Publikum goutieren das Werk als das, wie sie meinen, zahmste Werk von Strauß mit Behagen, und zwar noch auf Kosten der »Salome« und natürlich erst recht der »Elektra«. Das macht, weil sie es bewußt oder unbewußt fühlen, daß sie noch auf vertrautem Boden sich bewegen. Also man kann sagen, daß der dritte Zug der viertägigen Strauß-Woche, der uns außer »Feuersnot« unter Schuch noch die »Domestica« unter Strauß selber brachte, den innerlich echtesten Erfolg brachte. Und doch ist, wenn man von letzterem als von einer Untergangs-Erscheinung spricht, die »Feuersnot« das typischste Übergangswerk, das er auf dem Gebiet des musikalischen Dramas schrieb. In »Guntram« noch Wagnerianer de pur sang d. h. in Textwahl und Musik, emanzipiert er sich wenigstens in der ersteren insoweit von seinem Vorbild, als er von dem Bannkreise des Schopenhauerschen Weltverneinungs‑ und Askese-Ideals energisch abrückt. Kunrad der Ebner, der Held des Werkes, ist kein Weibes Wonne Entsagender. Im Gegenteil. Im Grunde also bleibt Strauß in »Feuersnot« nur Form-Wagnerianer; er bringt gleichsam dem Bayreuther Meister noch einen Scheidegruß in seinem eignen Idiom dar. Daran, daß das ganze Werk Meistersinger-Stimmung atmet, ändert auch der Umstand nichts, daß es den Chören einen breiten Raum und ein Eingreifen in die Handlung vergönnt. Daß »Salome« einen Fortschritt über »Feuersnot« hinaus bedeutet, unterliegt, wenn man die Entwicklung des Komponisten im Auge behält, keinem Zweifel. Zwar nähert er sich in der Pointierung, die er seiner Musik am Schlusse gibt, insofern wieder seinem großen Vorläufer, daß er seine Heldin gleichsam »erlöst« werden läßt; denn so und nicht anders ist wohl der isoldenhafte Aufschwung aufzufassen, den diese nimmt, als sie im Kuß die Lippen des toten Jochanaan mit ihrem Munde berührte. Aber die Rollen zwischen Mann und Weib sind vertauscht. Bei Wagner sind es in der Hauptsache die Heldinnen, die »erlösen«, die Helden, die sich erlösen lassen. In »Salome« ist es also umgekehrt. Aber auch in musikalischer Hinsicht zieht Strauß die aus dem Textbuch sich ergebenden über Wagner hinausführenden Konsequenzen. Da er das Wildesche Drama ohne Umdichtung vertont und dessen Bedeutung im sprachlich-koloristischen Moment liegt, gewinnt seine Musik nach dieser Seite hin besonders Boden. Nicht nur, daß der »neue Berlioz« zur Differenzierung der Tonrealistik im Grausigen wie im grotesk Witzigen (Juden-Szene) Spielraum findet, lebt er sich auch in der Farbengebung nach der schönen Seite, nach dem Wohllaut hin aus, und es war bemerkenswert, daß Strauß, als er sein Werk am zweiten Abend selber dirigierte, diese Partien sichtlich heraushob, wie er denn durch eine ruhige unnervöse Temponahme überraschte. Hätte Burrian, den diesmal Hr. Sembach verdienstlich vertrat, die von ihm seinerzeit kreierte Rolle des Herodes übernehmen können — er ist gegenwärtig in Amerika — man wäre Zeuge einer idealen Besetzung des Werkes gewesen; denn Perron gab dem Jochanaan geistige Größe und Frau Akté-Paris ist darstellerisch jedenfalls die beste Salome, die man sehen kann. Dieser zweite Abend wäre also sicher der Höhepunkt des Strauß-Zyklus gewesen, wenn nicht der Erfolg der diesen beschließenden [90] zweiten Aufführung der »Elektra« ihn in Schatten gestellt hätten.

Fragt man nun, in welcher Weise sich dieses Werk als eine Entwicklung wieder über »Salome« hinaus darstellt, so muß man sagen, daß das Werk einen Fortschritt nach der dramatischen Seite unverkennbar darstellt. »Salome« kann man ein dramatisches »Tongemälde« nennen, und abstrahiert man vom Gefallen oder Nichtgefallen des Vorwurfs[,] an ihm bewundern, wie scharf Strauß die drei Hauptfiguren der Heldin, des Herodes und des Jochanaan von dessen Hintergrund sich abheben läßt. In Hugo von Hofmannsthals Drama aber lag dem Komponisten schon ein ganz anders geartetes Textbuch vor wie in dem Wildeschen. Gewiß[,] der Wiener Dichter besaß nicht Potenz genug, um des Sophokles gewaltige Tragödie in modernem Geist umzugestalten. An Stelle des machtvollen Schicksalsgedankens, der in dem Schlußchor des Originals uns aufrichtend berührt, einen neuen zu setzen, gebrach es ihm als einem Kind unsrer Zeit wohl auch an einer gefestigten Weltanschauung. lndessen die belebtere und innerlich reichere Szenenfolge gab ihm das Original schon in die Hand, und hier setzt die Musik von Richard Strauß dahin ein, daß das Koloristische der »Salome«-Partitur gegenüber zurücktritt und es weniger auf die Fixierung des Milieus, als auf die drastische Veranschaulichung der szenischen Vorgänge ankommt, wobei es natürlich auch nicht ohne starke Gefühlsexplosionen abgeht. Mit logischer Notwendigkeit entfernte sich also Strauß auch in formaler Hinsicht noch mehr von Wagner, ging nicht nur über ihn hinaus wie in »Salome«. Das Aufgeben des leitmotivischen Prinzips schon im letzteren Werke als Lockerung erkenntlich, wird von ihm jetzt als Bruch vollzogen; nicht in dem Sinne, daß er keine charakterisierenden Personalmotive usw. hätte, aber in dem, daß er der sozusagen systematischen Verwendung derselben entsagt, die Wagner sich für seine Stoffe und seinen Stil, den einer dramatischen Epik, konstruierte. Um freiere Hand zu bekommen für eine lebensvollere, dramatischere Gestaltung nähert sich Strauß wieder dem begleiteten Rezitativ von ehedem, nur daß er alle Mittel einer neuzeitlichen differenzierten Ausdrucksmusik heranzieht und nicht am wenigsten in der Realistik der Tonmalerei die letzten Коnsequenzen zieht. Die Schilderung der grausigen szenischen Vorgänge übertrifft alles bis daher Dagewesene, und hier setzt ja auch der Widerstand gegen Strauß wieder am energischsten und, wer wollte das leugnen, erfolgreichsten ein. Nicht mit Unrecht sagt man, er scheine das Grausige, Entsetzenerregende, Nervenpeitschende um seiner selbst willen zu suchen, so unterstreicht er es, und da liegt etwas Wahres darin. Genialer Orchesterkolorist, der er ist, schwelgt er förmlich hierin als in seinem Element und fördert dabei allerdings auch manches unwiderstehlich Packende in der Milieuschilderung (das Vorbeitreiben der Opfertiere, die Fackelszene der Klytämnestra u. a. m.) zutage. Aber daneben fehlt es doch auch wieder an Momenten nicht, die einem [sic] mit ihm aussöhnen. Gleich der erste Monolog der Elektra bringt große Schönheiten; Stellen von echtem Pathos wie von Wärme und Innigkeit. Dann ist die Partie der Chrysothemis reich an lyrischem Aufschwung, die Krone aber ist die Wiederkunfts‑ und Erkennungsszene des Orest. Sie allein rechtfertigt es zu sagen, daß ungeachtet aller Einwendungen gegen das Werk dieses doch zu dem Bedeutendsten gehört, was seit Wagners Tod auf der Bühne erschien, und wir dächten, das sollte vorläufig genügen.

Wohin Richard Strauß sein Weg noch führen wird, wir wissen es nicht. Wir ahnen nur, daß er sein letztes Wort noch nicht gesprochen hat[,] und würden wünschen, daß er sich über das erheben könnte, was man als den besonderen Geist unsrer Zeit bezeichnen möchte, über deren Armut an ethischen Idealen. Was ist es denn, das seinem Stoff im vorliegenden Falle wieder die zeitüberdauernde Wirkung erschweren, um nicht zu sagen rauben wird, der Mangel an einem versöhnenden Moment. Wir sind die letzten, die denen recht geben, die nur »zum Vergnügen« ins Theater gehen wollen und finden auch in Werken wie Macbeth, Richard III. usw. Erhebung. Wir vermögen es uns auch vorzustellen, wie die Comthurszene am Schlusse des Don Juan seinerzeit gewirkt haben mag. Aber allen diesen Werken fehlte die Katharsis nicht, und wenn der Chor am Schlusse der Sophokleischen »Elektra« verkündet, daß »Atreus Stamm so schwer durch zahllos Leid zur Freiheit drang«, dann fühlen wir seelenbefreiend, daß sich hier unabänderlich ein gewaltiges Geschick vollzog. Der Freudenrausch der Elektra bei Hofmannsthal und Strauß kann eine solche Wirkung nicht auslösen, eben weil er ein – Rausch ist. Noch gut, daß es aus ihm kein Erwachen für die Heldin selber gibt; denn sie stirbt in ihm.

Das Ungezügelte, das Übermäßige in den Affekten aus den Textvorlagen resultierend ist es also auch, was auf Straußens Musik rückwirkt und sie einer Überspannung zutreibt, der dessen souveräne und virtuose Beherrschung des kaum noch erweiterungsfähig erscheinenden Orchester-Apparats Vorschub leistet. Daß aber dagegen eine Reaktion über kurz oder lang erfolgen wird und muß, ist anzunehmen. Sie wird davon ausgehen, daß das edelste aller Instrumente, die menschliche Stimme schließlich versagen muß, wenn die Musik auf dieser Bahn sich weiter entwickelt.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42168 (Version 2021‑09‑30).

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