»Elektra. Uraufführung im Königlichen Opernhause«
in: Dresdner Anzeiger, Jg. 179, Heft 26, Dienstag, 26. Januar 1909, S. 2

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
Elektra
Uraufführung im Königlichen Opernhause

Dresden steht wieder einmal im Mittelpunkt des musikalischen Interesses. Die mit Spannung erwartete Uraufführung der Elektra von Richard Strauß hat gestern im Königlichen Opernhause die sogenannte Strauß-Woche, um nicht zu sagen Halbwoche, eröffnet. R. Strauß, der meistgenannte Komponist unserer Tage, hat seit einigen Jahren eine Vorliebe für das Widernatürliche und Grauenvolle. Vielleicht glaubt er, nachdem er Zarathustra komponiert hat, ein Nietzscheaner zu sein. Vielleicht meint er, das Krankhafte sei das Übermenschliche. Eine Meinung, der alle Nietzschefreunde widersprechen werden. Sicher aber ist seine Erfahrung, daß mit dem Verzerrten, dem Brutalen auf einige Zeit großes Aufsehen zu machen ist. Hierüber hat Salome als ein Musterbeispiel ihn und uns belehrt. Salome: vor drei Jahren als kühnste Neuheit angestaunt, die Welt durchfliegend, heute eine Veraltung, die vor dem Allerneuesten verblaßt.

Dieses Allerneueste ist: Elektra, Tragödie von Hugo v. Hofmannsthal, Musik von Richard Strauß. Erster Eindruck: der gescheite Komponist ist sich treu geblieben, treu in der Wahl der Dichtung, treu in der musikalischen Ausführung. Es erfreut, zu sehen, daß die altgermanische Tugend auch einmal rentabel ist. Das Geheimnis der Straußschen Kunst, Aufsehen zu erregen, besteht nicht allein in dem betäubenden Lärm des verdoppelten Orchesters und den harmonischen Geißelhieben nebst regelmäßig nachfolgenden Banalitäten, sondern nicht minder in der Selbstbewußtheit, die den glücklichen Inhaber einer ungeheuerlich raffinierten Technik auf dem nun einmal als wahr erkannten Wege folgerichtig weiterschreiten läßt.

Das Ziel dieser bewundernswerten Selbstbewußtheit heißt: Verblüffung. Ihre Mittel: musikalische Gelehrsamkeit und Tüftelei bis auf die I-Punkte, bis auf fauchende Katzen und pfeifende Beilschläge, musikalisch gesagt: knatternde Chromatik und tausendfachen Taktwechsel.

Reden wir von Elektra, so steht der Name Sophokles am höchsten. Neben der heroischen Antigone hat er die heroischere Elektra geschaffen: die Tochter Agamemnons, die ihr Leben der Rache für den von der Mutter und ihrem Buhlen gemordeten Vater weiht. Des Sophokles Dichtung ist wie ein Tempelbau. Aber schon bei dieser Elektra müssen wir sagen: außer der Rache ist ihr beinahe alles Menschliche fremd. Schon im Altertum empfand man die grauenvolle Brutalität bei Elektras Worten: »Triff sie doppelt, wenn du kannst!« – Worten des Überweibes beim Wehruf der von Sohneshand gemordeten Mutter.

Dies Überweib hat H. v. Hofmannsthal in seiner Nachdichtung verdreifacht. Bei ihm ist Elektra in einen Dunst schwüler Sinnlichkeit gehüllt, ihre nüchterne Schwester Chrysothemis mannstoll bis zum Wahnsinn, ihre Mutter Klytämnestra abergläubisch verrückt wie nur noch Herodes in der allerletzten Sensationsoper. Hierfür und für andere Lagen mangelt es nicht an Wildeschen Wendungen. Man glaubt, in ein Irrenhaus versetzt zu sein. Alle rasen wie Furien: Elektra, Chrysothemis, Klytämnestra, die Mägde. Alle Weiber rasen. Es scheint wie eine Absicht, daß sich die Männer, sogar die Memme Ägisth, ruhig besonnen zeigen, während die Weiber in einem grenzenlosen Sinnestaumel befangen sind, der sie wie brutale Bestien erscheinen läßt.

Wenn dieses immerhin bedeutende Textbuch, dessen tiefste Schönheiten keineswegs in dieser Raserei, sondern in manchen träumerisch schwebenden Stimmungen liegen, überhaupt komponiert werden sollte, wozu nicht der geringste Anlaß vorlag, so konnte es nur durch Richard Strauß geschehen. Nehmt alles nur in allem: er ist der zeitgemäßeste Komponist, der zu rasen und zu wüten, zu kratzen und zu scharren, zu jauchzen und zu tanzen, zu ermüden und zu kitzeln versteht. Was seine Solisten singen, indem sie kaum irgendwo noch einen musikalischen Anhalt haben und um solche Kleinigkeiten wie Tonarten nicht im geringsten bekümmert sind, geht uns wenig an, da wir es nebenbei nachlesen dürfen, aber was im Orchester faucht und wütet, brodelt und zischt, nörgelt und sticht, aufbäumt und niederrennt, leuchtet und dunkelt, widert und reizt, von dem allen sich durchpeitschen zu lassen ist doch ein ganz eigenes Gefühl. Wenn das Stück, unsäglich verbreitert und veräußerlicht durch die Musik, vorüber ist, fühlt man sich wie durchgehauen. Ein wirklich dekadenter Genuß. Und dabei hat dieser Wahnsinn Methode. Denn Strauß ist einer der absichtlichsten Musiker, hochgradig zielbewußt, nicht im mindesten so verrückt, wie es zunächst seine Musik vermuten läßt. Mögen die Musiker schimpfen, daß so etwas nicht spielbar ist, die Erfahrung lehrt: es wird gespielt. Fragt nur nicht: wie lange? Beruhigt euch im Gedenken an Salome, die ja auch Staub aufgewirbelt hat, der nun mählich sinkt. Sprecht auch nicht gegen den Nihilismus dieser Musik. Sie ist noch keine Zersetzung. Denn der Elektra-Komponist verwirrt zwar, um zu verblüffen, aber er selber ist sich klar wie wenige von seinem Handwerk. Noch immer ist seine Methode die Wagnerische. Sehet die Leitmotive, die euch unter Fingern und Lippen zwar zerbröckeln, aber doch eben da sind. Strauß ist geradezu ein Fanatiker des Leitmotivs, das er fast zu Tode hetzt, freilich ein noch größerer Liebhaber der instrumentalen Würze, einer so gequirlten Würze, daß diese musikalische Kochkunst kaum noch übertroffen werden kann.

Wird gesagt: Strauß sei auf Abwege geraten, so ist das ein gänzliches Verkennen des genialen Mannes. Er befindet sich durchaus auf der Bahn und Stufe, die ihm angemessen ist. Er kann nicht anders. Mit Recht darf er sich sagen: Mögen sich die jungen Leute noch so sehr abquälen, der Lohensteinismus in der Musik kann nach mir nicht mehr überboten werden. Und wo gibt es noch einen musikalischen Artisten, der für Nervenzuckungen treffendere Attitüden notiert hätte?

R. Strauß als Musik-Eulenspiegel verleugnet sich in der Elektra nicht. Das tausendfach gejagte Hauptmotiv dieser Oper ist auch ein Hauptmotiv der Salome: dieselben Noten in denselben Intervallen und derselben Bewegung, nur mit einer kleinen Genickverdrehung, die auch ein anderer als unser bewährter Komponist fertiggebracht hätte. Ich halte es in beiden Opern für das Rachemotiv, gestehe aber, daß ich die autorisierten Wegweiser pflichtschuldigst nicht gelesen habe. Sollte der Komponist, der ja auch sonst (siehe: Feuersnot) persönlichen Spitzen und Gespaßigkeiten nicht abgeneigt ist, hier selber auf seine Erfindungsarmut und auf seinen Äußerlichkeitenreichtum angespielt haben? Sollte er selber gefühlt haben, daß in dieser Hinsicht Elektra seine schwächste Leistung ist?

Nicht von neuem ist zu fragen, ob die Schwierigkeiten, die in dieser neuen Oper alles Vorangegangene wieder einmal in Schatten stellen, nötig sind oder nicht. Ich halte sie mehr für Anstrenglichkeiten. Jedenfalls sind sie überreichlich vorhanden. Vielleicht hat gerade das die Dresdner Hofoper zur Uraufführung gereizt. Elektra ist wieder einmal eine Sensation. Die aus aller Herren Ländern herbeigeeilten Theaterleiter, Regisseure, Kapellmeister und Rezensenten werden auch diesmal den Eindruck mitnehmen, daß die Dresdner Hofoper den höchsten technischen Anforderungen in bewundernswerter Weise gewachsen ist. Den Wirrwarr dieser raffiniert berechneten Partitur wird kaum ein anderer so überlegen zugleich enthüllen und verdecken können wie Herr v. Schuch, der außerdem die Terzen- und Sexten-Banalitäten mit solchem Schwung zu umkleiden weiß, daß der Effekt am Schluß der Oper unfehlbar gesichert ist. Ganz hervorragend in den Hauptrollen sind Frau Krull als Elektra, Frau Schumann-Heink als Klytämnestra und Fräulein Siems als Chrysothemis. Die Anstrengungen schienen ihnen wenig zu bedeuten. Ihre groteske Raserei war wie ein taumelndes Entzücken. Ob sie immer richtig gesungen haben, will ich mir nicht anmaßen zu behaupten. Bei einer Straußschen Oper ist Falschsingen oft gerade das Richtige. Auch die kleineren Rollen sind durchweg mit vortrefflichen Kräften besetzt, Orest mit Perron, Ägisth mit Sembach. Der Erfolg war, wie vorauszusehen, glänzend. Neben den Darstellern wurden Herr v. Schuch, Regisseur Toller und der Komponist etwa 30 mal herausgerufen.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz, Adrian Kech

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42237 (Version 2021‑09‑30).

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