Bahr, Hermann
»›Elektra‹ in Dresden. Persönliche Stimmungen«
in: Neue Freie Presse, Heft 15963, Freitag, 29. Januar 1909, Morgenblatt, Rubrik »Feuilleton«, S. 1–3

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
»Elektra« in Dresden.
Persönliche Stimmungen von Hermann Bahr.

Wunderlich ists in Dresden jetzt, man erkennt dieser Tage die behagliche Stadt gar nicht wieder. Mich freut’s immer, wie sie hier das Wort »hübsch« gebrauchen, noch anders als wir: ein hübscher Mann, das ist ihnen einer, der auf Sitten und gutes Betragen hält; ein hübsches Mädchen, das ist eine, die die Wirtschaft brav versteht. Tüchtigkeit, Anstand und Lebensart meint das Wort hier, und so stimmts auf ihre ganze Stadt auch, eine »hübsche« Stadt ists, in der alles sein rechtes Maß hat, nichts sich übernimmt und noch der alte bedächtige deutsche Schritt eingehalten wird. Zwar ein bißchen international trägt sie dabei sich immer schon gern und mag es, wenn durch den grauen Zwinger das starke, frohe Lachen herzhafter junger Engländerinnen schwirrt. Nahe ist auch der Weiße Hirsch mit seinen sorglos vergnügten Patienten aus allen Ländern, und am Rande rings hat sich in Gärten manch fremdes Gevölk von Rentnern, Weltleuten, Künstlern eingenistet. So laute Gäste wie jetzt aber haben sie doch schon lange nicht hier gehabt, und in den Hotels gehts so vielsprachig zu, als wärs das wirkliche Florenz. Ganz Europa ist hier, hat mir mit Stolz mein Portier anvertraut; und wie man doch auch von ganz Paris oder ganz Berlin spricht, im selben Sinn mags ja gelten. Alles ist da, was es sich schuldig glaubt, bei den Ereignissen niemals zu fehlen. Man denkt an Bayreuth; nur daß es dort feierlicher, nachdenklicher ist. Hier hat sich alles hastiger, eiliger, heftiger, weniger hieratisch, mehr berlinisch. Und eigentlich muß ich an München denken, vor vier Jahren im August, als dort das große Automobilrennen war, das Herkomer-Rennen. Daran erinnerts mich fast ein bißchen. Wie in der Erwartung von Rennen, Spielen, Wetten betragen sich diese gierigen Fremden, die zur Strauß-Woche da sind. Es sind jene Aermsten von den Reichen, die ineinemfort doch endlich einmal etwas erleben möchten; alles andere können sie sich ja kaufen. Sie ließen sich, wenn man es ihnen anböte, vierteilen, um nur einmal etwas zu spüren, doch irgend etwas. Eine Wirkung dieser Art erhoffen sie vom Künstler. Und erschlägt er sie nicht, so erschlagen sie dann ihn; es ist nicht ganz dasselbe, aber doch immerhin ein gewisser Ersatz.

Und mitten im Getümmel der überfressen Hungrigen steht nun still betriebsam der Zauberer, um den diese ganze Hölle tanzt, Herr Generalmusikdirektor Richard Strauß aus Berlin. Und das Schöne an ihm ist, gleich auf den ersten Blick, daß er so gar nicht zu seinen Bewunderern paßt. Ein standhafter, wetterharter, merkwürdig gefaßter Mann; ruhig und wohlgemut. Gärtner schauen so aus; auch Leute, die viel mikroskopieren; Leute, die gewohnt sind, Dinge mit festem Blick aus der Nähe genau sinnend zu betrachten und Liebe, Geduld und Treue zu haben. Ganz jung noch, man sieht ihm seine vierundvierzig Jahre kaum an; die Augen aber sind noch nicht zwanzig. Auf diese Augen hin könnte man ihm, wenn er zum Theater ging, den Franz im Götz oder den Küchenjungen Leon geben, oder auch den braven Leim im Lumpazi. So treuherzig unbeklommen blicken sie mit Unschuld, romantischer Wanderlust und Zuversicht die Welt an. Nur wird man dann freilich gleich gewahr, daß sein Mund dazu nicht recht stimmt; ein weicher, frauenhafter, geheimnisvoller Mund, an dem allerhand Tücken, Zärtlichkeiten, Müdigkeiten, Traurigkeiten, drohende Listen und arge Wünsche im Dunkel hängen. Tut er den Mund aber auf und spricht, dann stimmts wieder, auf einmal: der warme, braune, königlich bayrische Klang seiner gelassen zugreifenden Rede bestätigt den festen, erdenfrohen Blick seiner unverschleierten Augen. Und man hat an seinem aufrechten Wesen ein so sicheres Gefühl: Der steckt in der Erde fest, den werden sie nicht umblasen! Nein, wirklich: zu seinen Bewunderern mit ihrem Getümmel ratloser Hysterien paßt er doch gar nicht! Und nun ist man so weit, am Ende seinen Fall erst recht nicht zu verstehen! Denn dieser Fall ist ja beispiellos: eines Künstlers, der durch seine Verwegenheit die Kenner erschreckt, aber schon im ersten Lauf die Menge gewinnt. O Berlioz, o Flaubert, o Rodin, o alle ihr romantischen, o alle ihr naturalistischen Schlachten, wie geht das nur zu, kann denn das sein? Weshalb es denn auch richtig bei den ganz Klugen insgeheim sachte schon Mode wird, an ihm zu zweifeln. Aber Vorsicht, Kinder, Vorsicht, so einfach ist es doch nicht! Ja: es kann einer ein Künstler sein und keinen Erfolg haben; das ist die Regel. Ja: es kann einer den Erfolg haben und kein Künstler sein; das ist die Regel. Aber sich so ganz sicher darauf zu verlassen, daß es nun deshalb für allemal ausgemacht sein muß: bloß weil einer den Erfolg hat, kann er schon deswegen allein kein Künstler sein – ich weiß nicht, Kinder, ich möcht’s nicht, das Schicksal macht zu tückische Späße, wirft alle Regeln um und blamiert einen! Wie war’s denn mit jenem Raffael? Und ganz im Ernst, der Vergleich ist vielleicht gar nicht so paradox, wie man ihn zuerst wohl finden mag. Warum soll’s nicht auch unserer Zeit beschieden sein, einmal doch auch wieder einen von den einsammelnden Künstlern zu haben, die zur Ernte gehen? Wir sind sie nur gar nicht mehr gewohnt und glauben wirklich schon, es könne nur noch die beiden Gattungen geben, um die jetzt alles geht: eine von Künstlern, die durchaus zurück wollen, von Musealbeamten zur Erhaltung der Vergangenheiten, von Lebensfernen, Lebensfremden, Lebensfeigen, und gegenüber die der wilden Renner zur Zukunft, die vor dem Tage her reiten, mit ihren neuen Augen und ihren neuen Ohren und ihrer nagelneuen Menschlichkeit; jene sind mit Langweile hochverehrt, und mit diesen ist der große Lärm, weil nämlich die, die noch mit Kiemen atmen, nicht glauben können, daß man auch Lungen haben kann, sondern das für einen Schwindel halten oder für pervers. Und Nummer eins zerrt nun zurück, und Nummer zwei zieht vorwärts, und den braven Leuten zwischen ihnen ist es mit allen beiden nicht recht geheuer, denn die braven Leute sind nicht von gestern und sind nicht von morgen, sondern heute möchten sie [2] sich einen guten Tag machen. Und nun erscheint, was in allen Künsten sonst nicht1 fehlt, in der Musik plötzlich einer, der endlich wieder ein Künstler der unmittelbaren Gegenwart ist, alles, was wir heute sind und haben, in seine starke Hand nimmt und, unbekümmert was einst mit uns war und was einst aus uns wird, uns hören läßt, wie uns jetzt ist, jetzt. Und man wundert sich, daß ihm auf den ersten Ton gleich alle verfallen sind? Er ist der große Zeitgemäße, der einzige heute, der in seiner Kunst das ganze Wesen dieser fragwürdigen Epoche hat, kein Aufrührer, der erst niedermachen und aufsprengen muß, kein Ausbrecher in Fernen, kein Sucher von Anfängen, sondern ein Finder, ein Bändiger der Wirren, ein Vollender. Einer, dem es genügt, alles zu können, was seine Kunst heute kann, und der nun zeigen will, was man damit alles kann. Unsere ganze heutige Geistigkeit, soweit sie sich in den sicheren Besitz der Gegenwart fügt, drückt er unmittelbar aus: mit ihrem Hochmut aus einem unbegrenzten Kraftgefühl, das alles wagen zu dürfen, sich an allen Vergangenheiten messen zu können, mit allen Gefahren zu spielen, aller Drohungen zu lachen, von allen Verlockungen zu kosten und in allen Betäubungen wach zu bleiben weiß; und mit ihrer schauspielerischen Verwandlungslust, sich hinzugeben und doch zu bewahren, zu täuschen und in der Täuschung gerade dann das wahre Gesicht erst zu zeigen, durch Verstellung erst ganz echt zu sein; mit ihrem barbarischen Trotz, den es reizt, die Sitte zu brechen, und ins Chaos zurück lockt, nach Urlauten vormenschlicher Unschuld zu horchen, und mit ihrer übersinnlichen Begierde nach nie vernommenen Zärtlichkeiten, unerlösten Frömmigkeiten, traumverwunschenen Helligkeiten einer neuen, fern aufschwebenden, beflügelten Menschheit; mit ihrem bitteren Hohn gegen sich selbst, an die sie nicht glauben will, und ihrer argen Verliebtheit in sich selbst, von der sie nicht lassen kann; mit ihrem festen Trost in der technischen Allmacht, der das Unmögliche selbst gehorchen muß, und mit ihrer heillosen, bettelarmen Sehnsucht nach irgend einem ganz einfachen, stillen, ungebrochenen Gefühl, um das sie mit solcher Hast im Dunkel irrt, bis sie in ihrem bangen Taumel zuletzt ins Kitschige stürzt – he, da ist mir jetzt das verruchte Wort entsprungen, auf das man sich neuestens im Geheimen gegen Strauß verschwört, denn drei Jahre, man denke nur, drei Jahre lang schon, seit der »Salome«, ist ja Strauß jetzt schon berühmt, und wie kann, soll, darf es denn geschehen, daß in unserer Zeit drei ganze Jahre lang ein und derselbe Mann berühmt bleibt? Und so wird denn zunächst seine »technische Meisterschaft« überall so gelobt, daß der Deutsche Verdacht schöpft, dem es ja stets unheimlich ist, wenn einer seine Kunst kann, und der sich immer noch den Künstler als einen wild wachsenden Waldmenschen mit sorglos aufgesperrtem Schnabel denken will; und dann wird ihm sein Orchester vorgerechnet, o wie den braven Deutschen das Heckelphon erschreckt und die Es-Klarinette und gar, daß man die Trompeten zuletzt stehend bläst, als wärs eine Schande, wenn einer das Handwerk seiner Kunst ehrt und es mehren will; und da dies alles doch noch immer nicht hinzureichen scheint, um seinen Ruhm auszublasen, raunen sie sich jetzt zu, daß er, bei aller technischen Meisterschaft und allen Wundern des Orchestermosaiks von blendenden Tonfarben und harmonischen Kuriositäten und allen erfinderischen Scherzen der musikalischen Gebärde, doch aber deutlich der geschlossenen großen Empfindung unfähig sei, keinen Atem habe und, wenn er es zwingen will, kitschig werde. Kitsch sagen sie, oder sie sagen auch: Liedertafel, diese Parole wird ausgegeben. Und sie merken nicht, daß an diesen Stellen gerade, die sie damit meinen, wo nämlich zuweilen, gleichsam unbewacht, plötzlich ein ganz reines, einfaches, blumenhaftes Gefühl aufblüht, sogleich aber vor sich selbst zu erschrecken scheint und aus Angst, banal zu werden, den Kelch schließt, daß dort das tiefste Leid unserer ganzen Zeit schluchzt, das Leid um unsere verlorene Unschuld des Gefühls, aus der wir durch den schlaflosen Geist vertrieben worden sind. So kommt es mir mit meinen Ohren vor, und wo die Merker ihm »Fehler« anstreichen, sind es mir nur Zeichen und Male der heutigen Menschheit. Der größte Verräter dieser Zeit ist er, der größte Spion ihrer Geheimnisse. Und er ist an ihr ein so vollkommener Psychologe, wie nur Mozart an der seinen war. Macht also mit der Zeit aus, was euch an ihr nicht gefällt, haltet euch an sie, nicht an ihren Künstler! Von der Zeit hat er seine Herrschsucht im Technischen, denn damit allein ja halten wir uns noch aufrecht, [?] daß wir uns sicher wissen, mehr zu können, als alle Vergangenheiten jemals, und so wollen wir es im Ermatten immer wieder hören: Qualis artifex! Von der Zeit hat er auch seine Zärtlichkeit fürs Material, die das Instrument wie ein lebendes Geschöpf hegt und abhorcht, um zu hören, was die Geige selber will, und den Schlag ihrer Seele klingen zu lassen, wie der Bildhauer die schlafende Form aus dem Stein weckt; auch die menschliche Stimme selbst ist ihm so gleichsam ein furchtsam verborgenes Tier, das er kost und lockt und streichelnd erst zutraulich machen will, weil er ihm die verschwiegene Lust anhört, sich noch viel weiter wagen zu können, als es selbst weiß. Und von dieser herzbeklommenen Zeit, die keinen Ausweg zu wissen scheint, als sich vor dem Leben ins Aesthetische und Artistische zu retten, hat er endlich auch den schwarz verhängten Trieb, am Gräßlichen, am Scheußlichen der Magie der Kunst zu versuchen, ob sie nicht auch Entsetzen in Schönheit und so das Unerträgliche selbst in Freude verwandeln könne.

Nie war diese Magie mächtiger als in der »Elektra«, die dort einsetzt, wo die »Salome« aufgehört hat. Mir will scheinen, man habe nämlich den Schluß der »Salome« mißverstanden, indem der Hörer die ganz unbeschreibliche Lösung und Reinigung, die hier seinem Gemüt geschieht, auf die Salome selbst überträgt und sich als ihre Läuterung und Verklärung deutet, was nur seine eigene Entrückung durch die Macht der Darstellung ist. Wie wir im Anblick eines ungeheuren Feuers oder einer Eruption von der Pracht des Elements so ergriffen werden können, daß wir darüber aller Schrecken und Gefahr vor Bewunderung vergessen müssen, so steigert Strauß den Ausdruck des Entsetzlichen so, daß wir nur noch die Fülle seines Ausdrucks spüren und die Lust, daß es so was Starkes überhaupt gibt, und den Stolz, daß ein Mensch eine solche Macht, es zu bändigen, haben kann. Diese Musik darf sich in alle Schauder wagen, weil sie ihnen nicht erliegt und sich stärker weiß als sie und überall aus ihnen Schönheit brechen läßt. Soll ich es mit einem verwegenen Wort und auf die Gefahr hin, daß man es verdrehen und übel ausdeuten wird, sagen, was, die zwei Stunden der Aufführung hindurch, mein Grundgefühl war? Eine namenlose geistige Heiterkeit wars, ein fortwährendes inneres Frohlocken, ein Strahlen in allen [3] Sinnen und Nerven vor hellem Glück, wie es der Fechter hat, der sich im Sieg fühlt, oder einer, der den Gipfel erklommen hat, Abgründe rings unter sich, die ihn nicht mehr schrecken können, und der nun vor Uebermut die Füße zum Tanzen hebt, im Angesicht der lieben Sonne. Hier ist, was Nietzsche sich verordnet hat, um an der Seele zu genesen; er fand es nur nirgends, und so konnten die Schwachen es mißverstehen, als wäre eine verdünnte, blaßblaue Spinettmusik gemeint. Hier ist eine, die vom Tragischen empor zur Freude findet, nicht indem sie sich vom Tragischen weg mit schlechten Nerven in den stillen Winkel drückt, die Hände vor den wehen Augen, sondern indem sie durch Geist alle Greuel der Götter überwältigt und sie dann spielend genießt – »und Dein nicht zu achten!« heißt’s im »Prometheus«.

Mir wars ein herrlicher Abend. Erst das ungeheure Schwirren einer drängenden und stoßenden Erwartung, durch das von Berühmtheiten ächzende Parkett hin. Und plötzlich saß man im Dunkel und sah ins Dunkel, zwischen den beiden Dämmerungen im Saale und auf der Bühne aber schwammen die hundertzwölf kleinen Lichter des brodelnden Orchesters. Schon aber war man entrückt, das Frösteln der Erregung schwand, und ich hatte das Gefühl, von einer festen, aber sanften Hand gelassen gehoben, geduldig getragen und gelind empor, emporgezogen zu werden, immer höher, immer höher, bis der mit seiner festen Hand mir zuletzt ganz oben zu stehen schien, auf einer weit vorspringenden Felsplatte gleichsam, von der weg er mich in den frischen Wind hinaus hielt. So von dieser immer aufwärts, immer wieder aufwärts, unerbittlich aufwärts treibenden Musik wehrlos entführt, ihr preisgegeben und anvertraut, zugleich in ihrer Macht, aber auch unter ihrem Schutze zu sein, war mein seltsam immer heller schlagendes Gefühl. Da fuhr aus dieser Dusche der Nerven und der Sinne plötzlich noch ein ganz starker Strahl, wie ein Hieb: die Schumann-Heink als Klytämnestra, eine rote Schandsäule von Fett und Geilheit, ein taumelnder Goya. Schauspielerisch höchst merkwürdig, noch mehr aber durch den Versuch, die Mitte zwischen Sprechen und Singen zu finden, wo sich der Reiz eines unmittelbaren Naturlauts und der des Kunstgesangs begegnen. Und dann wieder ein Axthieb, aber der jetzt ganz anders: als Orest-Perron erscheint und in die Weiberwirtschaft plötzlich die Männerstimme tritt, von einer ganz stillen Größe ist das. Und indem Elektra, ihn erkennend, aufschreit, bricht das Orchester zusammen, und eine herzinnige Weise klingt (und die Antis rundherum, die sonst nie genug »Melodie« haben können, notieren im Klavierauszug einen »Reißer« an).

Herrlich war der Abend. Aber unter meiner glitzernden Freude saß die ganze Zeit tief drin ein kleines nörgelndes Gefühl, wie eine nagende Maus versteckt. Und immer wieder sagte es, nagend: Warum haben wir das nicht? Und es hat doch recht! Warum können wir in Wien so was nie haben? Warum sollten die Kunstleute von Europa W. nicht auch einmal nach Wien kommen müssen? In unserer Wiener Oper ist noch immer genug übrig geblieben, daß ihr auch heute noch Vorstellungen möglich wären, die kein anderes Theater erreichen kann. Warum nimmt man keine Gelegenheit wahr, uns einmal vor Europa zu zeigen? Oder warum wagt das Burgtheater nichts? Warum versucht’s niemand? Wir sind so reich, aber wie Geizhälse, die den Schatz verscharren; niemand soll’s wissen. Dresden hat die Strauß-Woche, München Prinz-Regententheater und Künstlertheater, und überall am Rhein, in Bonn und in Düsseldorf und in Köln gibt’s Festspiele, und in Mannheim auch und in Zürich auch, und meine Salzburger sind jetzt auch schon so gescheit. Ich glaube nicht, daß man in diesen Städten allen um so viel künstlerischer gesinnt ist als bei uns. Der Unterschied ist nur: dort weiß man, daß die Kunst nebenher auch ein wirtschaftliches Gut ist, an dem man reich werden kann. An dieser Einsicht fehlt’s bei uns, an der künstlerischen Einsicht, daß die Ausstellung eines Malers, die Aufführung eines Dichters für eine Stadt, wenn sie sich ihrer ein bißchen annimmt, fast so wichtig werden kann wie eine Mastviehausstellung. Für diese Einsicht müßte man zu wirken trachten, bei Bäckern und Wirten und Schneidern. Aber dahin ist’s noch weit, denn bei uns sind die zu stark, die glauben, daß wir es nicht nötig haben. Drum nage nur ungestört, mein Mäuslein, nage!

Dresden, am 25. Januar 1909.
1Neuausgabe 1912, S. 73: »jetzt« statt »nicht«.
verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz, Adrian Kech

Bibliographie (Auswahl)

  • Hermann Bahr, »Richard Strauss: I. ›Elektra‹ in Dresden«, in: Hermann Bahr, Essays, Leipzig, 1912, S. 71–79, S. 71–79.

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42330 (Version 2021‑09‑30).

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