Kaiser, Georg
»Elektra. Tragödie in einem Aufzug von Hugo von Hofmannsthal. Musik von Richard Strauß«
in: Leipziger Volkszeitung. Organ für die Interessen des gesamten werkthätigen Volkes, Jg. 16, Heft 41, Freitag, 19. Februar 1909, Rubrik »Feuilleton-Beilage«, S. 15–16

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
Elektra,
Tragödie in einem Aufzug von Hugo von Hofmannsthal. Musik von Richard Strauß.

Es ist ganz natürlich, daß Musiker und Musikfreunde, Aesthetiker und Aestheten, schaffende wie genießende Geister in gewisse Aufregung versetzt werden, wenn ein neues Werk von Richard Strauß erscheint. Man mag schließlich über Strauß denken, wie man will, die Tatsache läßt sich nicht ableugnen, daß er unter allen schaffenden Musikern der Gegenwart am meisten von sich reden macht. Und wenn er besonderes Geschick hat, sich ordentlich in Szene zu setzen, und Publikum und Presse unablässig mit seiner Person und seinen künstlerischen Absichten zu beschäftigen weiß, so hat er anderseits [sic] wirklich einen so großen Fonds Begabung und Können in sich, daß er vollste Beachtung fordern darf. Es ist leicht, über einen in mancherlei Beziehungen neue Bahnen schreitenden Künstler kurzerhand den Stab zu brechen, ihn dem Witz und Gespött seiner Gegner und der Reaktionäre schonungslos preiszugeben; schwerer, mühevoller und undankbarer ist das Geschäft, vorurteilslos und liebevoll auf ein Werk einzugehen, das sich nicht ohne weiteres in eine bestimmte Rubrik bringen läßt und das so sehr vom blendenden Schimmer der Sensation umgeben ist. Wenn die Kritik nur die eine Aufgabe hätte, den Künstler über irgendwelche Mängel seines Werks aufzuklären, so wäre es Strauß gegenüber vielleicht richtig gehandelt, von der Position des voreingenommenen Gegners aus zu urteilen, denn Strauß selbst gesteht in dem von ihm verfaßten Vorwort zu einem dieser Tage erscheinenden Buche (Dr. L. Schmidt, Aus dem Musikleben der Gegenwart), daß er »nichts Förderlicheres kenne als die Kritiken eines Todfeindes, der von vornherein mit der Absicht zugehört hat, aus welchem Grunde auch immer, dem Autor am Zeuge zu flicken, wo er nur kann! Je schärfer – heißt es weiter – seine Intelligenz ist, desto weniger werden ihm auch die verborgensten Schwächen entgehen, die der Begeisterte oder auch nur sympathisch Wohlwollende bewußt oder unbewußt übersieht. Da es einem nun bekanntlich selbst am schwersten fällt, seiner eigenen Schwächen bewußt zu werden, so liegt der Nutzen des Todfeindes zur Förderung der Selbstkritik, wo solche überhaupt geübt wird, auf der Hand.« Es gibt aber gottlob noch andre Ziele der Kritik, als dem Schöpfer eines Kunstwerks eine Privatvorlesung zu halten, darunter vornehmlich das eine: das Kunstwerk dem Verständnis des großen Publikums nahezubringen. Dies soll hier mit Elektra geschehen.

Noch leben wir in einer Literaturepoche, deren innerstes Wesen mit dem Erscheinen des naturalistischen Dramas im allgemeinen aufgezeigt war. Welche Seitenströmungen entstanden, kann hier nicht interessieren, bemerkenswert ist für uns nur der eine Zweig, das sogenannte psychologische Drama, das sich vornahm, mit wissenschaftlicher Genauigkeit einen Charakter zu zerlegen und zu entwickeln. In einem solchen Drama geht man den leisesten seelischen Regungen mit einer Energie auf den Grund, mit teilweise so vorzüglichem Erfolg arbeitet man am Zerlegen und Zergliedern eines zufällig unter die Finger geratenen Seelchens, daß Aufführungen solcher Dramen belehrend für Aerzte und Richter sind und in der psychologischen Wissenschaft bewanderte Darsteller erfordern. Diese Bloßlegung aller Willensregungen geschah meist an einem weiblichen Charakter, und da waren es wiederum Charaktere mit einem gewaltigen Ueberschuß an Sinnlichkeit, die zur Darstellung reizten. Jetzt konnte Möbius’ Satz vom Schwachsinn des Weibes aufgestellt und Nietzsches Mahnwort besser verstanden werden, daß man auf dem Wege zum Weibe nicht der Peitsche vergäße. Gertrud Eysoldt entdeckte man als eine geniale Darstellerin, die oft zum Hohn aller ästhetischen Forderungen mit rücksichtslosem Wagemut derartige Geschöpfe auf der Bühne zum Leben brachte. Und auch die Dichter selber fragten nicht nach ästhetischen Gesetzen, wenn es ihnen nur gelang, mit größter Deutlichkeit und peinlichstem Scharfsinn den erschauten Charakter, allen Feingefühls und jedweder Scham entblößt, uns vorzuführen. Der Zuschauer war teils erschüttert, teils angeekelt von dem, was er sah und hörte und fand sich aus seiner Verwirrung und sittlichen Entrüstung erst wieder ins gut Bürgerliche zurück, wenn er die Schlagworte vom Ueberweib, von Perversität usw. über die Lippen gebracht hatte. Frank Wedekind, Oskar Wilde und Hugo von Hofmannsthal sind hier als Autoren zu nennen. Während aber Wedekind die Darstellung solcher aus dem heutigen Leben gegriffener Charakter [sic] unter Hinzuziehung allerlei ethisch-sozialer Probleme der Gegenwart versuchte, kamen Wilde und Hofmannsthal auf den Gedanken, Gestalten der Bibel und des griechischen Altertums in moderner Fassung darzustellen. Es ist nun für Strauß höchst charakteristisch, daß er zwei Dichtungen dieser Art zur textlichen Grundlage seiner letzten musikdramatischen Schöpfungen machte. Wildes Salome erschien 1901, in der Straußschen Vertonung 1905 (in Dresden); Hofmannsthals Drama Elektra kam 1903 zur ersten Darstellung, und vor einigen Wochen fand die Uraufführung in der Strauß’schen Vertonung statt (in Dresden).

Bei der Wahl der Dichtung ist sich Strauß’ Geschmack treu geblieben, auch die Elektra stellt wie die Salome einen weiblichen Charakter mit ungewöhnlich starker Sinnen- und Willenskraft auf die Szene, auch die Elektra bietet trotz im allgemeinen gewahrter realistischer Darstellungsweise hier und da kurze Stellen, wo ein romantisch-phantastischer Hauch weht. Die Sprache war in der Salome dichterisch-kraftvolle Prosa, in der Elektra hören wir Verse, fünffüßige Jamben. Freilich bedarf es eines feinen rhythmischen Gefühls, um zu hören, daß es Verse sind, die da gesprochen oder gesungen werden. Bei allem Bilderreichtum und bei unzähligen Feinheiten in der Sprache, die mitunter fast an Grillparzer gemahnt, hat Hofmannsthal sich hier einer männlich rauhen, markigen Ausdrucksweise befleißigt, wie wir sie von ihm nicht gewöhnt sind. Seine Gedichte und vor allem sein kurzes dramatisches Spiel Der Tor und der Tod haben eine viel weichere, in lauter Wohllaut getauchte Sprache.

Der Uraufführung des Wort-Dramas (Oktober 1903 im Kleinen Theater zu Berlin) ging – ich kann mich nicht enthalten zu schreiben: unsinnigerweise Glucks Ouvertüre zur Iphigenie voraus. Denn wenn auch auf dem Zettel stand: Tragödie »frei nach Sophokles«, so hat das Hofmannsthalsche Drama nicht einen Funken griechischen Geistes in sich, und das Glucksche Meisterwerk war hier ganz und gar nicht am Platze. Man empfand sogar die Wesensverschiedenheit der modernen Dichtung von der antiken so stark, daß man dem Dichter von mancher Seite die Bemerkung »frei nach Sophokles« arg übelnahm und direkt als Beleidigung des griechischen Genies bezeichnete. Die Bemerkung war aber wohl nur erfolgt, weil auch Aeschylus und Euripides denselben Stoff behandelt haben, Hofmannsthal aber sich äußerlich an die Sophokleische Dichtung angelehnt hatte. Aeußerlich – im Wesen sind beide Werke gänzlich verschieden. Es wäre auch ein frevelhaft unnützes Beginnen, ein zweiter Sophokles sein zu wollen; die Absicht war vielmehr, den antiken Stoff für unsre heutige Bühne brauchbar zu machen; es handelt sich um eine vollständig selbständige Leistung. Und wir müssen gestehen, daß Hofmannsthal dem Stoff wirklich neue Seiten abgewann, indem er sich die Aufgabe stellte, das rachebedürftige Weib Elektra in so realistischer Weise darzustellen, daß wir in jede Falte ihrer Seele hineinsehen.

Die Handlung ist folgende. Agamemnon, Herrscher von Mykene, wird, kaum zurückgekehrt aus siegreicher Schlacht, von seinem Weibe Klytämnestra und deren Buhlen Aegisth meuchlings im Bade überfallen und mit dem Beil erschlagen. In der Verwirrung, die der eben geschehene Mord hervorruft, gelingt es Elektra, der Tochter Agamemnons und Klytämnestras, ihren zwölfjährigen Bruder Orest, den das mörderische Paar aus Furcht vor späterer Rache ebenfalls umbringen wollte, zu retten. Sie sendet ihn mit einem treuen Diener zu fernen Verwandten. Vor dem Schwesternpaar Elektra und Chrysothemis fühlen die Verbrecher sich sicher, obwohl Elektra ihnen ein scheues und finsteres Wesen zeigt. Der so oft von der Schwester herbeigerufene Bruder Orest kehrt nicht zurück, und Elektra beschließt, mit eigener Hand ihren Vater an den Mördern zu rächen, nachdem die Kunde von Orests Tod eingetroffen und Chrysothemis ihren Beistand verweigert hat. Orest ist aber nicht tot; er selbst bringt, unerkannt als Bote erscheinend, die Kunde seines vermeintlichen Todes. Nur der Schwester gibt er sich zu erkennen, und von ihren Bitten bestürmt, das Werk der Blutrache zu erfüllen, tötet er Klytämnestra, seine Mutter, und den freudig heimkehrenden Aegisth. Elektra, außerhalb des Palasts auf diese schauerlichen Vorgänge lauschend, gerät über die Tat in einen Taumel der Verzückung und stürzt tot zu Boden.

Wie schon angedeutet, mußte Hofmannsthal, um ein selbständiges Kunstwerk zu schaffen, die im Elektrastoff liegenden Probleme von andrer Seite beleuchten, als es Sophokles getan. In der antiken Dichtung erscheinen Elektra und Orest als die Vollzieher göttlicher Weltordnung; mit äußerstem Nachdruck wird betont, daß Orest der von den Göttern gesandte Rächer und Strafrichter ist. Aber etwas andres ist noch treibendes Element: das Fatum, das mit unheimlich zwingender Konsequenz sich vollziehende Schicksal des Atridenhauses. Ganz im Hintergrunde schwebt die Gestalt des Tantalus. Ein Jagdvergehen des Agamemnon erweckte den Zorn der Göttin Artemis. Diese verlangte von Agamemnon die Opferung seiner Tochter Iphigenia, und Klytämnestra verteidigt die abscheuliche Tat des Gattenmordes Elektra gegenüber damit, daß sie als Rächerin für Iphigenias Opferung aufgetreten sei. So macht bei Sophokles das unabwendbar über Atreus’ Geschlecht hereinbrechende Unglück die einzelnen Handelnden zu Dienern des Fatums. Auch Hofmannsthal läßt Orest den göttlichen Befehl zur Vollziehung der Rache zuteil werden; es hätte bei ihm dieses Moments gar nicht bedurft, da er die Triebkraft zur Handlung allein aus der Psychologie der Charaktere gewinnt. Er betont die göttliche Sendung des Orest auch nur wenig, vielmehr liegt ihm an der Lösung der Aufgabe, den Muttermord aus der Psychopathologie des Geschwisterpaars zu erklären. Bei diesem Geschäft wären stärkere Anlehnungen an die Sophokleische Dichtung sehr hinderlich gewesen, insonderheit hätte eine Mitwirkung der Chöre, die dort dem Widerstreit entgegengesetzter Gefühle in Elektras Brust fast allzu geschwätzig Ausdruck geben, die Aufgabe sehr erschwert. Denn wenn Elektra bei Sophokles noch schwankt, die ihr das Leben gab dem Gebote der Blutrache zu opfern, mußte Hofmannsthal den Charakter der Elektra von Anfang an viel zielbewußter anlegen. Der moderne Dichter konnte auch die sehr ausführliche Schilderung des Pflegers von Orests Tod – eine Glanzstelle bei Sophokles – und mehrere andre Momente nicht für seine Zwecke gebrauchen, da sie allzu retardierend gewesen wären und das Interesse für einige Zeit von dem Charakter Elektras abgelenkt hätten. Der Zuschauer sollte eben von der eisernen Konsequenz, mit der der moderne Dichter den außerordentlich willensstarken Charakter entwickelte, gefesselt werden und mit Staunen bemerken, wie sich folgerichtig aus der Liebe zum erschlagnen Vater, aus dem Abscheu vor der mordenden Mutter, die einen neuen Buhlen sich erkor, schließlich sexuell irregeleitete Gefühle entwickeln, bis die sadistische Wollust durch den Muttermord befriedigt ist und der plötzlich ausbrechende Wahn zum Tode führt. Der bekannte Dresdner Staatsanwalt Wulffen bekennt in einem Aufsatz über das Elektra-Problem (Berliner Tageblatt vom 16. Februar 1909): »Diese Elektra (von Hofmannsthal) ist wirklich das kriminalistische Phänomen, als das die Muttermörderin uns wissenschaftlich gilt. Es ist Hofmannsthal gelungen, den aus der Antike herübergenommenen Muttermord im Sinne moderner Auffassung psychologisch zu erschließen. Damit ist auch das Thema künstlerisch gerechtfertigt.« Auch wir erkennen die Leistung des Dichters als selbständig und hochbedeutend an, ohne zu behaupten, daß die Behandlung solcher Probleme zu den höchsten Aufgaben des Dichters gehöre.

Die Frage, ob das Drama nach musikalischer Hilfe verlange, ist müßig, denn nach allem Gesagten versteht es sich von selbst, daß ein als Wort-Drama mit solchen Ehren bestehendes Ganzes durch ein [sic] Vertonung an Kunstwert einbüßt. Restlos ist für den Hörer alles aufgedeckt, dem Musiker bleibt also nichts Neues zu sagen übrig; er kann die Worte selbst nur unterstreichen, aber nichts Eigenes dazwischenfügen, denn alles Notwendige ist schon da. Und selbst dieses Unterstreichen der Worte, die Absicht, alles eindringlicher zu machen, muß hier größtenteils scheitern, da wir es im Drama mit Leidenschaften, wie Haß, Rachlust, mit Gefühlen von Abscheu, Ekel, Furcht und ähnlichem zu tun haben, Dinge, die durch Musik nur höchst mangelhaft ausgedrückt werden können. Die Musik mildert in dieser Hinsicht ungemein, und was dem sprechenden Darsteller leicht gelingt, wird dem singenden bedeutend schwer, da Töne die schärftste Wortrealistik abschwächen.

Man darf sich nicht einbilden, daß Strauß solche Dinge nicht wüßte. Er kennt sich darin sehr wohl aus und hat auch die nötigen Konsequenzen gezogen. Obwohl eine große Zahl von ausführlichen Kritiken des Werks in die Welt gesandt wurde, ist es bisher noch niemand aufgefallen, in welch bedeutsamer Weise sich der von Strauß in Musik gesetzte Text von dem Text des Wortdramas unterscheidet. Textbuch des Straußschen Musikdramas (Verlag Fürstner, Berlin, mit der Zugabe eines höchst geschmacklosen Bildes von Louis [sic] Corinth) und das den Text des Wortdramas enthaltende Buch (S. Fischer, Berlin) sind von wesentlich verschiedenem Inhalt. Nähere Vergleiche ergeben, daß im Musiktext ungefähr 500 Verse des Wortdramas fehlen, und das will bei einem Einakter schon etwas heißen. Hinzugekommen sind nur wenige Verse; die hauptsächlichste Ergänzung hat der Schluß des Dramas erfahren. In welcher Weise sich Strauß wegen der Striche und Veränderungen mit dem Dichter auseinandergesetzt hat, ist mir nicht bekannt; das zu wissen, ist auch nicht unbedingt erforderlich. Es ist aber mit Bestimmtheit anzunehmen, daß die Anregung zu einer solchen Umgestaltung von Strauß ausging. Was durch die teilweise ungeheuerlichen Striche das Drama Hofmannsthals verlor, hat das Musikdrama Straußens, wenigstens teilweise gewonnen; mit andern Worten: Der Tonsetzer merkte sehr wohl, daß ihm, wenn er den Text des Dramas, wie es in unsern Schauspielhäusern aufgeführt wurde, in Musik setzte, nicht viel Eigenes zu sagen übrig blieb; er mußte also Mittel und Wege finden, sich Raum und Zeit zu schaffen für den Vortrag eigner Gedanken, er mußte Lücken schaffen im Texte, die auszufüllen der Musik überlassen werden mußte. So konnte er, indem er Breschen schlug für die Entfaltung seiner Kunst, Gelegenheit finden, das mit seinen Mitteln zu sagen, was er dem Dichter entzog. Freilich lassen sich mehrere hundert Verse psychologischen Gehalts, Verse, die geheimste Regungen eines so sonderbaren Willens enthüllen, nicht durch Musik ersetzen, denn wo der scharfe Verstand des Dichters gewaltet hat, da ist die stets gefühlsmäßig aufzunehmende Musik nur Surrogat. Und da nun die Rauheiten der Charaktere und Derbheiten der Sprache durch die Töne unendlich gemildert sind, so ist schließlich aus Hofmannsthals streng psychologischem Drama ein Operntext geworden, der in der Charakteristik der Personen und vor allem in der Psychologie Elektras für den Kenner ganz auffallende und durch Strauß’ Musik nicht ersetzbare Lücken und Mängel aufweist. Auch dadurch, daß fast alle Stellen, die bezeugen, wie gut Elektra weiß, »wie es zwischen Mann und Weib zugeht«, gestrichen sind, Verse einer geilen Lust, über sexuelle Dinge zu reden, Worte, erzeugt von einer toll ausschweifenden Phantasie – ist die Charakteristik Elektras erheblich geschädigt worden. Um die – wir müssen schon sagen – sadistischen Triebe Elektras, wie sie sich am Schlusse zeigen, recht zu verstehen, bedarf es eben dieser krassen Stellen. Die Verzückung des Weibes nach der ausgeübten Rache kommt deshalb zu überraschend. Wir müssen bedauern, daß Hofmannsthal sich zu so großen Strichen herbeiließ, die so schwere Schädigungen seines Werkes im Gefolge hatten, und nur einigermaßen versöhnt uns mit ihm die Art, wie er für Strauß den früher sehr kurzen, aber auch wirkungsvollen Schluß zu einem langen Zwiegesang erweiterte. Hier versucht er, alles wieder einzuholen, was er sich wegstreichen ließ; ein auch den Zuhörer überwältigender Rausch ergreift die beiden nun von ihren Peinigern befreiten Schwestern:

Elektra.
Ich habe Finsternis gesät und ernte Lust über Lust.
Ich war ein schwarzer Leichnam unter Lebenden, und diese Stunde bin ich das Feuer des Lebens, und meine Flamme verbrennt die Finsternis der Welt.
Mein Gesicht muß weißer sein als das weißglühende Gesicht des Monds.
Wenn einer auf mich sieht, muß er den Tod empfangen oder muß vergehen vor Lust.
Seht ihr denn mein Gesicht? Seht ihr das Licht, das von mir ausgeht?
usw.
Chrysothemis.
Gut sind die Götter, gut!
Es fängt ein Leben für Dich und mich und alle Menschen an.
Die überschwänglich guten Götter sinds, die das gegeben haben.
Wer hat uns je geliebt?
Nun ist der Bruder da, und Liebe fließt über uns wie Oel und Myrrhen.
Liebe ist alles! Wer kann leben ohne Liebe?
usw.

Die große Erweiterung des Schlusses ist ohne allen Zweifel auf Strauß’ Wunsch hin geschehen. Was Strauß an dieser Stelle gibt, berechtigt zu größten Hoffnungen, es ist musikalisch wohl das wertvollste, was er bisher geschaffen hat. Einen eminenten Fortschritt gegenüber der Salomemusik bedeutet die Musik zur Elektra nicht. Im allgemeinen wandelt Strauß die gleichen Bahnen wie vor fünf Jahren, aber es sind Einzelheiten in der Partitur, die weit über die Salome hinausgehen. Wir meinen hier nicht etwa eine Steigerung nach der rein malerischen und formellen Seite, wir denken vielmehr an ein Plus dichterischen Nachempfindens, eine Vertiefung des musikalischen Gehalts. Galt Strauß unbedingt als genial in der Beherrschung der Form und als zweifellos unerreicht in der Kunst der Instrumentation, so waren sich die meisten Musikverständigen auch darüber klar, daß es ihm an Kraft der Erfindung mangle und der musikalische Gehalt seiner Schöpfungen recht an der Oberfläche liege. Und da sei denn gleich gesagt, daß auch in der Elektrapartitur nicht alles gleichwertig ist; die thematische Erfindung ist auch hier gegenüber technischen und formellen Leistungen, wie sie eben nur Strauß zu bieten hat, schwach zu nennen. Der leitmotivische Aufbau ist zwar auffallend konsequent und im großen ganzen nach Wagners Intentionen geschehen; aber freilich können die Leitmotive selbst nicht entfernt einen Vergleich mit den Wagnerschen aushalten, sie sind viel zu wenig prägnant mit wenig Glück erfunden und teilweise von nur malerisch-schildernder Natur. Die malerische Begabung Straußens ist, wie schon in der Salome zu bemerken war, immens, es ist aber ein Vorzug des neuen Werks, daß sie sich nicht allzu aufdringlich zeigt. Von den vielen Themen sind die des Agamemnon und einige, die Klytämnestras Wesen bezeichnen, die markantesten. Während im Wortdrama Hofmannsthals der Name Agamemnon – paßte er doch nicht in den jambischen Vers – nicht vorkommt und immer nur vom »Vater« geredet wird, hat Strauß sich den prächtig musikalischen Namen nicht entgehen lassen. In dem Thema des ermordeten Herrschers liegt etwas Düstres, Unheimliches, bei seinem Erklingen ist es einem, als wenn der zur Blutrache auffordernde Geist über die Bühne schritte. Von den Themen der Klytämnestra fällt hauptsächlich eines auf, das mit Wagners Erda-Motiv entfernte Verwandtschaft zeigt. Von den übrigen leitmotivisch verwendeten Bildungen drängt sich dem Hörer eine siebentaktige Melodie ins Ohr, die wohl die Geschwisterliebe der Kinder Agamemnons bezeichnen soll; gerade an diesem Beispiel könnte man ausführlicher darlegen, wie Strauß’ melodische Erfindung wenig originell ist, wie er aber anderseits [sic] die an und für sich durchaus harmlose, ja bei einer leisen rhythmischen Veränderung sofort ins unerträglich Banale, Reißermäßige geratende melodische Linie vermöge seiner orchestralen Einkleidung durchaus veredelt. An dieser Stelle muß auch gleich gesagt werden: es gibt keinen größeren Frevel am Komponisten, als sein Werk nach dem Klavierauszug zu beurteilen. Strauß empfindet durchaus orchestral; was im Klavierauszug trocken erscheint, poesilos [sic], raffiniert gekünstelt, das bekommt durch die Instrumentation ein ganz andres Gesicht. Bei einer Bewertung des Werks nach ästhetischen Prinzipien ist diese Tatsache von weittragender Bedeutung; bei Strauß erscheint mir das noch wichtiger als bei Wagner, weil gerade im Klavierauszug die klangliche Hauptlinie aller Beistriche und Schattierungen, die das Orchester bringt, beraubt ist und in ihrer Nacktheit die schwache Seite Straußens zu empfindlich aufdeckt. Der größte Unsinn wird noch mit den Leitmotiven der Elektra getrieben; es ist überhaupt ein unseliges und das Kunstwerk keineswegs ehrendes Beginnen, fortwährend und überall nach Leitthemen auszublicken, sie herauszuklauben, zu numerieren, klassifizieren usw. Ich [16] persönlich habe mich geärgert, das elende Machwerk der Herren Röse und Prüwer (Elektra. Ein Musikführer durch das Werk, Verlag Fürstner) in die Hand genommen zu haben, wo die Sucht nach allerhand motivischen Wendungen geradezu krankhaft ist. Der Aerger über dieses Buch verließ mich auch während einer Aufführung der Elektra nicht, und die schändlich pedantische, durchaus unkünstlerische Art, wie man dort die Leitthemen gesammelt hat, brachte es wirklich fertig, daß von allen Seiten geisterhafte Stimmen mir zuriefen: »Achtung! Nr. 28: Klytämnestra innen hohl und zerfallen« oder »Nr. 20: Chrysothemis sehnt sich nach Mutterfreuden.« Nein, seht doch das Ganze als solches an! Schon bei Betrachtung der Salome fiel die Einheitlichkeit, der einzigartige Fluß – trotz einiger Ausnahmestellen – auf; in einigen Berichten über die Elektra fielen Ausdrücke und Urteile wie: das Werk sei eine große Sinfonie mit instrumentaler Verwendung von menschlichen Stimmen. Nun, ein Körnchen Wahrheit ist schon dran. Aber mit diesem Urteil, das dem großen Haufen in seiner schlagwortmäßigen Knappheit gewiß imponiert, kommt man bei diesem Werke nicht aus. Die Klagen über Strauß’ rücksichtslose Verwendung der Singstimmen sind nicht neu, und auch in diesen Tagen konnte man allerhand Gerüchte vernehmen, daß sich der Komponist herbeigelassen habe, mehrere der schwierigsten Stellen zu korrigieren, ja ein Blatt sprach ungeniert davon, man werde die Elektra in Berlin in einer Umarbeitung herausbringen. Strauß hat diese Gerüchte und Meldungen dementiert, und die Dresdner Sängerin der Elektra, Frau Krull, hielt es für angemessen, im Berliner Tageblatt zu erklären, sie sänge die Partie außerordentlich gern. Es sei ohne weiteres zugegeben, daß die Anforderungen an die Singstimmen außerordentlich hoch sind, aber von einer rein instrumentalen Verwendung zu reden, ist oberflächlich geurteilt. Auch Strauß weiß, daß die Menschenstimme, das Ur-Instrument, des allerhöchsten seelischen Ausdrucks fähig ist, und diese Weisheit offenbart sich des öfteren in seinem Werke. Ja, es sind Stellen vorhanden, deren ganze Wirkung vom beseelten Vortrag der Singstimme abhängt, Stellen, die mit höchstem Verständnis des Gesanglichen geschrieben sind. Freilich, schwierig sind die Singpartien, aber mehr durch die selbständige Art, mit der sie behandelt sind. Die Einsätze hängen sozusagen in der Luft, und harmonischen Anhalt findet der Sänger ziemlich selten. Der Orchesterpart ist allerdings sinfonisch behandelt, aber es ist doch nicht so, als wenn Orchester und Singstimmen total getrennte Wege gingen. Bloße Begleitfiguren auszuführen, dazu ist das Straußsche Orchester nicht da, vielmehr wird der vom Dichter ausgesprochene Gedanke durch die Singstimme und – man kann fast sagen – jedes einzelne Hauptinstrument zu vertiefen gesucht. Ein Melos ist in der Musik, das oft zur Bewunderung hinreißt.

Geht die musikalische Gestaltung im allgemeinen dieselben Wege wie in der Salome, so sind einige Einzelheiten vorhanden, die Strauß als Musikdramatiker in neuem Lichte zeigen. Für das Musikdrama als etwas Ganzes ist es nicht vorteilhaft, wenn irgendwelche und noch so bedeutende Einzelheiten sich mit gewisser Auffälligkeit herausheben. Und das ist es auch speziell für dieses Straußsche nicht. Wenn die von uns gemeinten Stücke erklingen, so hat der Musikverständige plötzlich ein Gefühl, als wenn Strauß aus der Rolle fiele, er empfindet als eine an und für sich geringe, aber doch seinem Ohr auffällige Stillosigkeit, was er später und besonders bei wiederholtem Hören des Werks mit freudiger Bestimmtheit als Fortschritt und Weiterentwicklung erkennt. Es sind Stellen von beinahe liedhafter und arienmäßiger Geschlossenheit, die da plötzlich auftauchen, und die von außerordentlicher Schönheit und Tiefe sind. Wo Chrysothemis sich aus dem Elend des mütterlichen Hauses heraussehnt und wie andre Weiber glücklich sein will im Besitz des Mannes, da erscheint zum erstenmal eine solche Stelle (in Es-Dur). Die zweite Stelle bringt die Freude Elektras über Orests leibhaftiges Erscheinen, an sie schließt sich ein herrlicher Zwiegesang Orest–Elektra; hier steigt bereits die Verzückung über die noch vorzunehmende Rache in Elektra auf. Die Krone des Ganzen bildet aber der Schluß, von dem wir oben schon einiges mitteilten. Wie hier aus dem höchsten Triumph‑ und Lustgefühl allmählich ein berauschender Wahn entsteht und Elektra überkommt, wie sie, gänzlich der Wirklichkeit entrückt, sich erhebt zu einem »namenlosen« Tanz, zu unbändiger Seligkeit, die zum Tode führen muß, – das ist mit Genialität musikalisch entwickelt, und die Schönheit dieses Schlusses – mag sie gleich die Absichten des Dichters, der mit dem tierisch-wilden Freudenrausch nach vollbrachtem Muttermord Grausen erwecken wollte, gänzlich zunichte machen, da wir uns wirklich mit Elektra zu freuen vermögen –, sie läßt uns auf den Musikdramatiker Strauß neue Hoffnungen setzen, ja wir glauben wirklich Großes noch von ihm erwarten zu dürfen. Möge er sich aber andern Stoffen zuwenden und von einer geplanten Vertonung des Sophus Michaelisschen wertlosen Dramas Die Revolutionshochzeit absehen.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42509 (Version 2021‑09‑30).

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