Georg Gräner
»Richard Straußens ›Salome‹«
in: Die Schaubühne, Jg. 1, Heft 15, Berlin, Donnerstag, 14. Dezember 1905, S. 436–439

relevant für die veröffentlichten Bände: I/3a Salome
[436]
Richard Straußens »Salome«.

Einst ging ich an einem grauen, düstern Gebäude vorüber; ein Gefängnis schiens. Während meine Blicke die Front des Hauses abschweiften, entdeckten sie hinter einem offenen, aber vergitterten Fenster einen Menschen. Mit müdem, seltsam verzerrtem Lächeln blickte er zu mir nieder, sodaß ich ihn eine Sekunde lang betroffen anschaute. Als ich mich wieder abwenden wollte, drang plötzlich ein entsetzliches, teuflisch-wildes Lachen vom Fenster herab. Ich erschauerte und begriff … Nie in meinem Leben werde ich das Lachen des Wahnsinns vergessen. – Und siehe, neulich öffnete sich mir die Bühne des Königlichen Opernhauses zu Dresden wie ein ungeheurer Mund, der das gleiche irre, häßliche Lachen lachte, nur daß es durch einen gewissen kranken »Schönheits«-Rest noch unheimlicher und verwirrender wirkte. Richard Straußens neue Oper »Salome«lachte mir aus schimmerndem Bühnenmund also entgegen.

Fast alle haben ihren Frieden mit Strauß gemacht, teils aus Überzeugung, teils aus jener Schwäche, die am liebsten mit den Wölfen heult. Ohne weiteres ist zuzugeben, daß Strauß unter den zeitgenössischen Komponisten die meiste Beachtung herausfordert. Er ist eben ein rechter Sohn unsrer Zeit, und sein ist dementsprechend eine gewisse Macht. Allein er ist weniger der Herr als der Diener der Zeit und hier liegt seine Schwäche. Er ist nicht der Herr der Zeit, er ist nicht einmal ihr getreuer Spiegel, der alles reflektiert. Von den Wehen der tief unter der glitzernden Oberfläche pulsierenden großen Zeitseele z. B., die nach höherem, weiterem, wahrhaftigerem Menschentum verlangt, ist Strauß nicht berührt worden. Dafür hat er in sich jene Sphäre aufgenommen, in welcher die sinnlich schwärmenden Gefühle der Männlein und Weiblein nach Liebe, Gold, Glanz und Rausch lärmend hausen, wo die halben Seelen wohnen und sich haltlos umherdrehen. Strauß lockt das schillernde Lügengewand der Weltstadt, seine Werke strahlen die Farbe dieses Gewandes aus und hallen wieder [sic] vom bizarren, tumultuarischen Weltstadtleben. Er selbst hat erklärt, daß er keine [Programmmusik] schreibe; um so berechtigter ist man, seine Musik eben rein als Musik aufzufassen, d. h. den natürlichsten Standpunkt zu seinen Werken einzunehmen. Fragt man jedoch, ob der größte Teil seiner Kompositionen wirklich noch Musik sei, dann kommen seine Freunde und Zeichendeuter und erklären: das müsse alles so sein; es sei der schonungslose Realismus eines objektiv schaffenden Künstlers. Was aber hat Musik mit Realismus – d. h. Schilderung von Begebenheiten, Tatsachen und Gegenständen – und Objektivität zu tun? Sie, die subjektivste aller Künste! Absolute und objektive Musik gibt es nicht; denn Musik wird ganz und gar aus der Seele des schaffenden Subjekts geboren und empfängt ihren Charakter je nach der Beschaffenheit dieses subjektiven Seelenlebens. Die brutalen Rücksichtslosigkeiten der kontrapunktischen [437] Stimmführung, im seltsamen Gegensatz zu der verfeinerten, raffinierten Instrumentation, die verzerrten Tonfratzen, die häufige, musikalisch (d. h. seelisch!) nichtssagende Verwendung von Passagen und Trillern, die lediglich äußerliche, sinnliche, schreiende Farbenpracht: alle diese Erscheinungen, und noch mehr, in Straußens Kompositionen zeugen von einem verstörten Seelenleben, welchem das Gefühl von der wahren Schönheit einer klaren, reinen Form und in Grenzen gehaltener, sicherer Kraft verloren gegangen ist. Nicht die in der Musik unmögliche objektive Schöpferkraft ist es, sondern eine fieberkranke Seele, die Strauß treibt zu Till-Eulenspiegelstreichen, Hammelkämpfen, übermenschlichen Zarathustra-Taumeltänzen, Neidergequak, Schlachtengetöse und … doch hiervon später. Damit sind wir, über alle spitzfindigen Erklärungen und Erläuterungen der Sterngucker des Strauß-Himmels hinweg, zu dem in diesem Himmel thronenden Gott selbst gelangt. Dort erkennen wir nun einen bedeutenden Menschen, in dem die Krankheit unsrer Zeit: der starke Zug nach dem Materiellen, Sinnlichen, Sensationellen, zum Ausbruch gekommen ist. Ein ursprünglich echtes, reiches musikalisches Talent, das erstickt wurde durch die faulen Dünste des großen Zeitsumpfes, Weltstadt genannt. Sollte oder könnte es Zufall sein, daß Strauß ein Theaterstück der Hochdekadenz »Salome« von Wilde, zu einer Oper umgewandelt hat?

Um die Stütz- und Querbalken des Gerüstes der Handlung in diesem Stück winden sich die Worte und Empfindungen wie ein wildes Gerank von welkem, faulem Laub in allen Farben des sterbenden Sommers. Da fährt heißer Wüstenwind in das Laub; es klingt so seltsam, wenn tausend müde, verwesende Blätter beben, raunen und rauschen: »Jochanaan! Ich bin verliebt in deinen Leib … In dein Haar bin ich verliebt … Deinen Mund begehre ich … laß mich ihn küssen, deinen Mund!« Jetzt heult der Wind um die Balken des Gerüstes, das klingt so schaurig: »Ich will dich nicht ansehen. Du bist verflucht, Salome. Du bist verflucht.« Nun säuselt der Wind wieder im Laub: »Tauche deine kleinen, roten Lippen hinein … dann will ich den Becher leeren … Komm, iß mit mir von diesen Früchten. Den Abdruck deiner kleinen, weißen Zähne in einer Frucht seh ich so gern … Tanz für mich, Salome.« Abermals wird der Wind grimmiger und dunkler zischelts im Laub und in den ächzenden Balken: »… Warum höre ich in der Luft dieses Rauschen von Flügeln? Es ist doch so, als ob ein ungeheurer schwarzer Vogel über der Terrasse schwebt? Warum kann ich ihn nicht sehen, diesen Vogel? Dieses Rauschen ist schrecklich.« Vergebens sucht der Wind hier die Aeolsharfe, auf der er seine starke, trunkene Melodie von der Größe der Schöpfung und des Lebens anstimmen könnte. Immer ungeduldiger mehren sich die Windstöße, bis sie, aus Salomes Tanzwirbel zum Orkan anwachsend, das ganze Gerüst mit seinen welken Laubgewinden furiengleich davontragen in die [438] schwarze Höhle, wo die dunkelsten Elemente der Natur wie Schlangen und Drachen hausen und einander zerfleischen: Salome (mit dem Haupt Jochanaans auf silberner Schüssel): »Ah, du wolltest mich nicht deinen Mund küssen lassen, Jochanaan! Wohl, ich werde ihn jetzt küssen! Ich will mit meinen Zähnen hineinbeißen, wie man in eine reife Frucht beißen mag … Ich hungre nach deinem Leib … Nicht die Fluten, noch die großen Wasser können dieses brünstige Begehren löschen …« Hier schweigt jede kleinste menschliche Regung vor dem Rasen der Bestie in Salome.

Richard Straußens Musik – es ist ja kaum Musik, sondern nur ein tausendfältiges, betäubendes Gewoge von Farben und bunten Schleiern, blendend, wie in weißem Mondlicht glitzernde Wellen. Diese flimmernde Schönheit des Orchesters ist bewundernswert, aber seine Ohnmacht, einen einzigen plastischen musikalischen Gedanken aus dem Farbenchaos zu gebären, beklagenswert. Es schwirrt und säuselt in den gedämpften Violinen, es flackert wie züngelnde Flämmchen in den Holzbläsern, es blitzt im Blech gewaltig blinkend auf, es grollt tiefschwarz in den Bässen und Pauken – nur eine erlösende Melodie, eine erlösende Musik kommt nicht. Aber aus den Modergrüften der Dichtung wirbelt diese gestaltlose Windmusik den Dunst und Staub erst recht herauf, daß man zu ersticken meint.

… Frau Wittichs mächtiger, glänzender Sopran konnte selten zu seiner reichen Fülle aufblühen; es war meistens nur ein Stöhnen, Jauchzen, Stammeln, kein Gesang. Das Übermenschliche, oder eigentlich Untermenschliche, zu vollbringen: die Salome in ihrer grausen Tierheit zu verkörpern, gelang ihr nicht. Sie war leidenschaftlich, beweglich, manchmal faszinierend, doch nie grauenvoll. Der Herodes des Herrn Burrian ließ noch weniger das brutale Tiermenschentum hindurchblicken; er war ein entnervter Wollüstling mit dem feigen Wolfsblut des Despoten. Sein wohllautender, heller Tenor hatte ganz und gar nichts von der rauhen Herrscherstimme eines barbarischen Königs. Nur Herr Perron wurde seiner Rolle voll gerecht; er war ganz der Asket, der Visionär, der starre, herbe Prophet Jochanaan, der mit furchtbarer Stimme von Vernichtung und Verderben kündet. Doch muß man im Ganzen anerkennen, wie gut die dresdner [sic] Künstler die märchenhaften Schwierigkeiten ihrer Aufgaben bewältigten. Das Orchester spielte unter Hofrat Schuch ganz außerordentlich. Auf der Bühne tönten sich die verschiedenen Farben der Gewänder zu einander, sowie zur Szenerie, manchmal zu sehr reizvollen Gesamtbildern ab, denen alles Harte vom blassen Mondlicht genommen war. – –

Vor Jahrtausenden feierten unter Tänzen und Jubelgesängen die Griechen Feste zu Ehren des jungen Gottes Dionysos, der als feuriger Wein durch ihre Seelen und Adern glitt. Es waren Tänze begnadeter Dionysosdiener, die den Gott genießen konnten. Heute tanzt eine [439] Salome, unbewußt fliehend vor der grauenhaft öden Leere in ihrem Innern, mit losgelassener, trunkener Sinnenwut vor einem zuschauenden Publikum. Himmel! welchen Weg ist die Menschheit von damals bis heute gegangen, auf dem sich der heilige Ausdruck höchsten Lebensgefühls in eine optisch-akustische Orgie verkehrte! Die Oper »Salome« ist ein Symbol der Lügen-Zivilisation: außen Pracht und innen das Elend – und Richard Strauß ist ihr Prophet.

Bemerkung

Drei und mehr Auslassungspunkte im Text wurden auf drei Auslassungspunkte vereinheitlicht.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Claudia Heine

Bibliographie (Auswahl)

  • Auszug in Franz Messmer (Hrsg.), Kritiken zu den Uraufführungen der Bühnenwerke von Richard Strauss (= Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft, Bd. 11), Pfaffenhofen: Ludwig, 1989, S. 39, 40–41.

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42691 (Version 2019‑05‑27).

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