[unbekannt]
[ohne Titel]
in: Musikalisches Wochenblatt. Organ für Musiker und Musikfreunde, Bd. 14, Jg. 24, Donnerstag, 30. März 1893, Rubrik »Tagesgeschichte / Musikbriefe«, S. 209–210

relevant für die veröffentlichten Bände: III/5 Don Juan

[209]

Wien.

[…] Weit höheres Interesse als die bisher erwähnten Novitäten – aber mit Ausnahme der Bruckner’schen Symphonie, die wie ein Koloss über alles andere Neue emporragte – erweckte im 5. Concert Richard Strauss’ Tondichtung »Tod und Verklärung«. Es ist dieses im »M. W.« [Musikalisches Wochenblatt] wiederholt (zuletzt in No. 3 dieses Jahrganges von einem Münchener Berichterstatter sehr warm) besprochene Orchesterstück Eines jener Werke, bei denen die Wirkung wesentlich davon abhängt, ob der Hörer auf die zum Ausdruck gebrachte poetische Idee eingeht oder nicht. Thut man es und bringt selbst ein gewisses dichterisches Empfinden, sowie die nöthige Phantasie mit, dann wird man von dem Schlussaccord der durch Alex. Ritter’s Gedicht sinnig erklärten (nicht, wie Viele annehmen, angeregten) Composition kaum ohne Ergriffenheit scheiden. Hört man kalt-kritisch prüfend zu, so muss man freilich bedauern, dass der hochgebildete, geistvolle Tonsetzer nicht ausser dem gewählten poetischen Vorwurf auch eine eigene originelle Persönlichkeit zum Ausdruck gebracht habe. Eine solche vermissten wir bisher in den hier vorgeführten Strauss’schen Werken fast gänzlich. Keine Stelle darin, von der man sofort hätte erklären können: das ist Richard Strauss, das kann nur er sein, so schreibt nur er. Im Gegentheile hat uns gerade »Tod und Verklärung« wieder auffallend an die Themenbildung anderer Meister, an Wagner und Liszt, ja sogar an Schumann und Brahms erinnert, von denen doch der Componist angeblich nicht Viel halten soll. Ausser Frage bleiben Strauss’ grosses technisches Geschick, seine Kunst, über das gesammte musikalische [210] Material zur Darstellung des geistigen Inhalts klar zu disponiren, und vor Allem seine meisterliche, ungemein farbenreiche Orchestration. In der Steigerung und Zuspitzung der Letzteren zu musikalischem Sprachvermögen hat Strauss eine ausserordentliche Virtuosität erlangt, dabei berührt es in der Orchesterbehandlung von »Tod und Verklärung« wohlthuend, dass Alles entschieden zur Sache gehört, während in dem voriges Jahr aufgeführten »Don Juan« Manches doch gar zu raffinirt, bei den Haaren herbeigezogen, nur um der Klangwirkung da zu sein schien. Die Aufnahme der in Rede stehenden Novität im 5. Philharmonischen Concert bestand in minutenlangem stürmischen Beifall, welchem allerdings zuletzt von einigen Bänken auch vernehmliches Zischen antwortete. Es sprach sich hiermit wieder einmal recht deutlich die Parteispaltung unseres Publicums aus.

[…]

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b43315 (Version 2018‑01‑26).

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