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Kienzl, Wilhelm
»Elektra. Tragödie in einem Aufzuge von Hugo v. Hofmannsthal. Musik von Richard Strauß. Erste Aufführung im Grazer Stadttheater am 12. Mai 1909«
in: Grazer Tagblatt, Jg. 19, Heft 133, Freitag, 14. Mai 1909, Morgen-Ausgabe, S. 1–4

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
»Elektra.«
Tragödie in einem Aufzuge von Hugo v. Hofmannsthal. Musik von Richard Strauß. Erste Aufführung im Grazer Stadttheater am 12. Mai 1909.

Als vor etwa sechs Jahren die Hofmannsthal’sche »Elektra« ihre Uraufführung erlebte, rief das Werk in literarischen Kreisen äußerst lebhafte und erregte Debatten hervor. Ganz begreiflich. Die Dichtung des Jung-Wieners entfernte sich in ihrer ganzen Anlage so unendlich weit vom antiken Original, daß nicht nur die Philologen und Moralisten, sondern auch ernste Kunstkenner sich gegen eine so gewalttätige »Umwertung aller Werte« des Sophokles entrüstet auflehnten. Jeder, der den erhabenen Geist der attischen Tragödie in seiner ganzen Tiefe und ethischen Größe erfaßt hat, wird die Verkehrung der einer hohen sittlichen Mission dienenden Vergeltungspriesterin Elektra in das einem wilden Vernichtungstrieb verfallene hysterische Racheweib Hofmannsthals für einen an der Urgestalt begangenen Frevel halten. Dessenungeachtet aber kann nur ein Urteilsloser den echten Dichter in dem modernen Gestalter des »Elektra«-Stoffes verkennen; finden sich doch in seinem Drama neben Partien von hervorragender Schönheit und feinnervigster Empfindung auch solche von gewaltig mitreißender Leidenschaft und Größe. Wenn jedoch Hofmannsthal, wohl durch mißverstandene Äußerungen Nietzsches über die entsetzliche Hysterie der Griechen dazu verleitet, die Frauengestalten seiner Tragödie in eine bisher unerhörte, bis zur Perversität gesteigerte schwüle Sinnlichkeit tauchte und damit – den realistischen Neigungen der Gegenwart huldigend – sich umsomehr dem Menschlichen zu nähern glaubte, als er sich vom Sublimen entfernte, so hat er in seiner den alten Mythos nur als Substrat benützenden Eigenschöpfung seine dichterische Begabung dazu mißbraucht, dem Wesen des Hellenentums geradezu einen Faustschlag ins Gesicht zu versetzten. Die Entfesselung bestialischer Triebe hat mit der erhabenen Gerechtigkeits-Idee des Sophokleischen Dramas nicht ein Jota gemein. Und es ist auch nicht wahr, daß sich der heutige Mensch so himmelweit von dem Wesen des antiken entfernt hat, daß wir die scheinbar unnatürliche, weil gegen die eigene Mutter gerichtete Vergeltungstat Elektras nur durch das Medium ihrer pathologisch-sexuellen Verfassung begreifen können. Ungezähmter Haß und Rache sind der Sophokleischen Elektra fremd. Es ist vielmehr überragendes moralisches Gefühl, welches ihr die Ausführung des von den Göttern über ihre Mutter verhängten furchtbaren Strafgerichtes als töchterliche Pflicht erscheinen läßt. Hofmannsthal trachtete offenbar über den uns heute unverständlich gewordenen Grundzug der antiken Tragödie, das Walten des Fatums, dadurch hinwegzukommen, daß er es durch die Psychologie der individuellen Veranlagung zu ersetzten versuchte. In dieser wohlerwogenen Absicht verübte er aber einen Gewaltstreich, der das Wesen der aus der antiken Anschauungsweise hervorgegangenen und mit ihr unzertrennlich verquickten Handlung, die Rich. Wagner einmal so schön als »religiöse Feier« bezeichnete, gänzlich aufhob. Bleibt nichts als der alle Sinne im tiefsten Grunde aufwühlende theatralische Eindruck, der unser ganzes Empfinden und Denken mit einer ungeheuren Woge überflutet, in der wir hilflos ertrinken.

Daß eine dramatische Dichtung solcher Art gerade Richard Strauß unwiderstehlich zur Vertonung reizen mußte, wird jeder zugeben, der die [sic] dem Ungeheurlichen und Grausigen zugewendeten Geschmack und das überschäumende Temperament dieses Tonsetzers aus dessen früherem Bühnenwerke »Salome« kennen gelernt hat; ja, man wird die Hofmannsthal’sche Dichtung als schlechthin für ihn geschaffen bezeichnen müssen, obwohl sie ursprünglich nichts weniger als den Anspruch in sich getragen hat, in Musik gesetzt zu werden. Die furchtbaren Greuel der Handlung, die brutalen Schilderungen der fünf Mägde, die wie Schlangen aufzischenden Flüche und Rasereien Klytämnestras, die markerschütternden Verzweiflungs‑ und Racheausbrüche Elektras und deren rasender Todes-Jubeltanz, stellen sie nicht Straußens ureigenstes musikalisches Gebiet dar, auf dem er keinen Rivalen hat? Er geht ihnen mit einem noch nicht dagewesenen Hexensabbat von (zum Teil unaufgelösten) Dissonanzen – es sei an die ohrenzerreißenden chromatischen Quintenfortschreitungen zweier unverwandter Tonarten bei der Schilderung des Im-Blute-Glitschens erinnert – zu Leibe, deren fortgesetzte Anwendung man trotz, ja vielleicht sogar wegen der kontrapunktischen Ansprüche, mit denen sie auf den Plan treten, als das direkte Gegenteil aller Musik bezeichnen darf. Leider erdrücken sie mit der ihnen meist verliehenen Wucht des Instrumentalkolorits großenteils das Dichterwort. Damit er[2]weist Strauß allerdings gewissen, der antiken Sittlichkeit gänzlich entkleideten, allzumenschlichen Stellen den dankenswerten Gefallen, daß er ihnen das (in Kunstkreisen sonst so verpönte) Feigenblatt eines erdrückenden materiellen Klanges appliziert hat.

Bekanntlich versteht sich aber Strauß auf Kontrastwirkungen. Er löst die folterndsten Partien durch Stellen von so berückend süßem Wohllaut und von so großer melodischer Faßlichkeit und harmonischer Einfachheit ab, daß das eben erst gemarterte Ohr sich urplötzlich im Paradiese wähnt; er verschmäht in solchen Stellen selbst die harmloseste Modulation und ergeht sich fast ausschließlich in – Tonika und Dominante! Diese Einfachheit wirkt bei Strauß umso stärker, je seltener sie vorkommt. Wird er in des Wortes engstem Sinne Melodiker, dann erscheint er sogar eingänglicher, ungenierter, ja man könnte fast sagen: italienischer als alle seine komponierenden Kollegen von heute.

Daß Strauß sich auf Steigerungen versteht, weiß man aus seinen sinfonischen Werken. Ebenso, daß er es versteht, dem Ganzen einen mächtigen Kopf aufzusetzten. Noch mehr wie im »Heldenleben«, im »Zarathustra« und in der »Salome« gelingt ihm dies in der »Elektra«. In der vom Dichter für ihn abgeänderten Schlußszene, der einzigen der Dichtung, die wirklich Musik in [sic] Leibe hat, öffnet Strauß alle Schleusen seines Musikertums; ein gewaltiges, mit sich fortreißendes sinfonisches Schwelgen zeichnet diesen in grandioser Polyphonie dahinbrausenden Dithyrambus aus, der uns alle vorher ausgestandenen Qualen vergessen läßt. Und mit wie geringen thematischen Mitteln weiß der Künstler Strauß hier so große Wirkungen zu erzielen. In der ganzen »Elektra« sind streng genommen nicht mehr als drei Themen, die diesen Namen mit Recht führen dürfen; alles andere ist thematisches Hilfsmaterial: als etwas Höheres vermag ich die kurzatmigen Motive des Agamemnon-Anrufes, des Beilhiebes, des Orestes und die melodisch seltsam verbogenen und harmonisch verzwickten Symbole der Elektra und Klytämnestra nicht zu erkennen. Demnach steht also das Was bei Strauß weit unter dem Wie.

Daß der Schöpfer der »Elektra« ein starker Charakteristiker ist, weiß man. Stellen wie »Geh’ fort, verkriech’ dich!« und die ganze sich daranschließende Partie der Chrysothemis bezeugen das. Man vergleiche z. B. Quintenfolgen bei Strauß mit solchen bei Puccini: bei jenem haben sie Charakter, bei diesem klingen sie widerwärtig; dort sind sie eben Bedürfnis, hier Mache. Alles, was Strauß macht, steht im Zeichen des bildhaft Schildernden, also eigentlich dem Drama Widerstrebenden. In der »Elektra« war ihm aber glücklicherweise die gefährliche Gelegenheit zur Detailschilderung lange nicht in dem Maße geboten, wie »Salome«, deren Sprachbilder für ihre Dichtung geradezu charakteristisch sind. Sie wurden dort von Strauß auch zum Schaden der Gesamtwirkung ungebührlich ausgenützt. Daher auch der Eindruck der von diesem Mangel freieren »Elektra« ein unvergleichlich einheitlicherer als der der »Salome«.

Die Unabhängigkeit von Wagner, die sich Strauß nach seinem parsifalesken »Guntram« – leider nicht immer im besten Sinn – errungen, macht in der »Elektra« insofern einen kleinen Rückschritt, als darin wiederholt deutliche Anklänge an »Rheingold« (S. 238 des Klavierauszuges*), »Walküre«, »Parsifal« (S. 15), besonders aber an »Tristan« (S. 82, 184 und S. 194, wo direkt »Tristan«-Samen aufgeht) auftauchen, wie denn überhaupt der dritte Akt des »Tristan« als Ausgangspunkt von Straußens sinfonisch-dramatischem Stil zu betrachten ist. Diesem Großen entrinnt eben doch keiner. Meisterhaft versteht sich Strauß auf Stimmungsfarben. Er verdichtet damit oft verblüffend die nur angedeuteten Absichten des Dichters. Als Beispiele mögen dienen: die Stelle der Chrysothemis »Immer sitzen wir auf der Stange« und das folgende (»und niemand kommt – kein Bruder – kein Bote von dem Bruder – nicht der Bote von einem Boten – nichts –«); ferner der beklemmende Monolog Klytämnestras, der von ihren fürchterlichen Träumen berichtet, wozu das Orchester ein wahrhaftiges Alpdrücken versinnlicht; dann die grausige, atemversetzende wilde Jagd, mit welcher Elektra ihrer Mutter deren geplante Ermordung schildert, und vor allem die den dramatischen und musikalischen Höhepunkt bildende Erkennungsszene zwischen Elektra und dem von ihr mit jeder Fiber ihres racheglühenden Herzens herbeigesehnten Orestes, in der nach einem erschütternden Orchesterkrampf die sturmgepeitschten Wogen der Musik sich zu einem tiefergreifenden Gesang Elektras beruhigen, mit dem die Schwester den geliebten Bruder begrüßt, sowie auch die darauf[3]folgende rührende Stelle »Ich glaube, ich war schön …«. Bei solchen Momenten denkt man unwillkürlich: was könnte uns Strauß sein, wenn er nur ernstlich wollte, wenn er die krankhafte Sucht des Sichselbstübertrumpfenwollens, die oft an Wahnsinn streifende Anhäufung der instrumentalen Mittel, das qualvolle Indielängeziehen unausgesetzt ekstatisch tobender und hastender, dabei wenig gegliederter Zwiegespräche (gegen welche die als lang verschrieenen, ausgedehntesten Dialoge Wagners wie Kinder erscheinen), mit einem Worte, die in allem herrschende Maßlosigkeit aufgeben und an ihre Stelle künstlerische Besonnenheit setzten wollte. Denn Strauß ist eine dramatische Natur, in der jeder Nerv lebt und zum Ausdrucke drängt. Es ist daher tief bedauerlich, daß er, durch sein überragendes technisches Können übermütig gemacht, sich über alle natürlichen Satzungen hinwegsetzen zu dürfen glaubt. Hieher gehört vor allem das ewige Gesetz jeder Kunst: Ruhe – Bewegung – Ruhe, woraus sich die Gliederung eines Werkes von selbst ergibt; ferner das ungestraft nicht zu umgehende Gesetz des musikalischen Dramas, daß die Musik die Förderin, nicht die Mörderin des dramatischen Wortes sein darf. Versteht man die Motive des Handelns der Personen nicht, weil die Musik mit ihrer dynamischen Wucht, aufdringlichen Charakteristik und figuralen Bewegtheit fast jedes Wort erdrosselt, wie das in der »Elektra« der Fall ist, so ist das Drama und seine Wirkung hinfällig gemacht. Was nützt es, daß »Elektra« »Salome« gegenüber einige unbestreitbare Vorzüge aufweist, wie es die stärkere Betonung des dramatischen Elements, die Einschränkung der musikalischen Wortuntermalung, der geringere Grad von Zersplitterung der (in »Salome« viel unvermittelter aufgetragenen) Orchesterfarben und die größere Einheitlichkeit des Ganzen sind, wenn es an dem fehlt, was diese Vorzüge voll zum Bewußtsein des Hörers gelangen läßt?

Trotz der erwähnten einzelnen Schönheiten und großen Züge des Werkes und des Umstandes, daß heute keiner wie Strauß es vermag, gewisse überwältigende Wirkungen zu erzielen, wie es seiner Kunst in der Darstellung des Gräßlichen, Furchtbaren, Zermalmenden (Klytämnestra: »… daß sich mir das Mark in den Knochen löst«) und in der jauchzenden Ekstase seiner berückend singenden Sexten gelingt, muß man Straußens »Elektra« in ihrer Gesamterscheinung doch als die tief bedauerliche Verirrung eines Genies bezeichnen.

Über die unerreichte Macht des Strauß’schen Orchesters, das jubeln, schreien, kreischen, klagen, singen, heulen, toben, konvulsivisch weinen, Schrecken und Schauder, Ergriffenheit und Wonne erregen, kurz alles kann, noch ein Wort verlieren, hieße tausendmal Gesagtes wiederholen. Auch in der »Elektra« hat sich Strauß mit Hilfe dieses seines Pandämoniums in erster Linie als ein Nervenkünstler ohnegleichen erwiesen. Und doch bleibt zu hoffen, daß dieses Orchester – wenigstens in der Oper – nicht Schule mache, sondern als ein in des Wortes eigentlichstem Sinne elektrisches Orchester auf das jüngste Werk seines Schöpfers beschränkt bleibe, so daß es dereinst in der Geschichte der Oper als ein Unikum und Kuriosum gelten kann.

Die Aufführung an unserem Stadttheater muß als eine außerordentliche Kraftleistung und als in jedem Betracht erstklassig bezeichnet werden. Ihre Güte ist vorher kaum bei irgend einem Werke auch nur annähernd erreicht worden. Dieses mit Freuden ausgesprochene Lob wiegt umso schwerer, als kein anderes Werk der Wiedergabe solche fast unüberwindliche Schwierigkeiten entgegensetzt wie die Strauß’sche »Elektra«. Herr Kapellmeister Groß führte mit Unerschrockenheit, Ausdauer und Hingebung das auf 90 Musiker verstärkte Orchester zum Siege. Die Leistung des großen Instrumentalkörpers ist eine in jeder Hinsicht ausgezeichnete gewesen, wenn man von dem einzigen Übelstande absieht, daß die Schallentwicklung eine viel zu gewaltige war, so daß die Singstimmen (und unsere Oper verfügt gewiß über große Stimmen!) erbarmungslos niedermusiziert wurden. Bei der exponierten Aufstellung der Geigen (in der ersten Parkettreihe) und der Entfernung der Schallwand war aber möglichste Diskretion im Hinblicke auf die rücksichtslose Instrumentation der Partitur doppelt geboten. Auch stachen die Klarinetten besonders empfindlich aus dem im übrigen wohlgerundeten Klangkomplex hervor. Bei manchen Kraftstellen hatte man geradezu den Eindruck katastrophaler Detonationen. Für Musiker ist es von Interesse, daß Strauß in der »Elektra«-Partitur die bisher allgemein übliche Klassifizierung in Erste und Zweite Geigen aufgegeben und drei obligate Geigenstimmen eingeführt hat, welches System teilweise auch auf die Bratschen übertragen erscheint, ähnlich wie es Wagner im »Lohengrin« mit der Einführung der Holzbläser-Trias getan hat. Um von den Geheimnissen der Strauß’schen Monstrepartitur [sic] einigermaßen erschöpfend sprechen zu können, bedürfte es eines eigenen Artikels. Jedenfalls ist mit der »Salome«- und »Elektra«-[4]Partitur eine neue Ära für das Orchester angebrochen.

Herr Walter zeigte sich auch in dieser Aufführung als ein geist‑ und geschmackvoller Regisseur, der für die Disposition bewegter Gruppen ganz besonderes Geschick zeigt. Auch die Abtönung des Himmelslichtes war sehr fein und stand in einem stimmungsvollen Verhältnisse zu den Vorgängen auf der Bühne. Die neue Dekoration, die Herr Reithmayer für den düsteren Hof der Königsburg von Mykene gemalt hat, entspricht vollkommen den Forderungen des Dramas, so daß sie dessen schauerlich-tragischen Eindruck wesentlich verstärkte.

Außergewöhnliches leisteten die bemitleidenswerten Sänger – bemitleidenswert, da die Bewältigung ihrer Rollen nicht allein ein enormes Vorstudium für das Memorieren der infolge ihrer Intonationsschwierigkeiten schwer zu behaltenden Gesangspartien, sondern auch, weil sie eine bezüglich ihres Umfanges und der verlangten, fast unausgesetzten höchsten Kraftentfaltung alles Gewohnte weit hinter sich lassende eiserne Ausdauer erfordern. Das gilt in erster Linie von der Titelrolle, für deren großartige Wiedergabe durch Fräulein Korb kein Lobeswort zu hoch sein kann. Die Elektra beherrscht das Drama vom Anfang bis zum Schlusse; sie kommt nicht von der Szene und befindet sich ununterbrochen im höchsten Affekt, so daß die Rollen der Isolde und der Brünnhilde mit ihren Auf‑ und Abschwellungen, Ruhepunkten und Pausen dagegen bezüglich der erforderlichen Ausdauer als wahrhaft bescheidene Aufgaben gelten können. Wo sind die Sängerinnen, die so riesenhaften, ja mörderischen Aufgaben gewachsen sind? Unsere Bühne kann stolz sein, daß sie eine solche besitzt. Strauß selbst gestand mir schon mit Bezug auf die Salome zu, daß er sich eine Kugel durch den Kopf schießen würde, wenn er gezwungen wäre, diese Rolle zu memorieren und zu singen. Und nun erst die Elektra! Allein schon schon die physische Bewältigung der Elektrapartie verdient hohe Bewunderung, wenn sie mit so kraftvoller Überlegenheit vollbracht wird wie von unserer vortrefflichen dramatischen Sängerin. Diese bot aber auch als geistige Gestalterin und als Darstellerin der Elektra eine Leistung ersten Ranges, ja die beste, die sie uns bisher überhaupt vorgeführt hat. Der stürmische Jubel, der zum Schlusse die Mitwirkenden mit dem Dirigenten und Regisseur unzähligemal vor die Rampe rief, galt in erster Reihe der Künstlerin Jenny Korb, deren in jeder Einzelheit ausgearbeitete, deshalb aber der großen Linie nicht ermangelnde, an erhabenen Zügen reiche Darbietung das Ergebnis einer fast an Aufopferung grenzenden Hingabe und des edelsten Kunstfleißes ist. Das höchste Lob verdient auch Fräulein Bengell für ihre Meisterleistung als Klytämnestra. Die Künstlerin, die sich in dem Jahre ihrer hiesigen Wirksamkeit zusehends entwickelt hat und deren Scheiden wir schwer empfinden werden, stellte das entartete Weib, in dem der auf dem Atridengeschlechte lastende Fluch verkörpert ist, mit eindringlichster Charakteristik hin. Sie verstand es, durch ihren reich schattierten, deklamatorisch musterhaft gestalteten Vortrag dem weiblichen Scheusal das gespannteste Interesse der Zuschauer zuzuwenden. Unter der scharfen Herausarbeitung des Wortes litt die Energie des Tones keine Einbuße – ein klarer Beweis für die ausgezeichnete Schulung, die ihr schönes Organ erfahren hat. Neben dieser wahrhaft bedeutenden Leistung, die für jede große Bühne reif ist, mußte naturgemäß die der gastierenden Bühnennovizin Fräulein Runge als Chrysothemis merklich in den Hintergrund treten. Eine so anspruchsvolle Antrittsrolle muß die Kritik zur Nachsicht stimmen. Fräulein Runge hat eine schöne, hohe und schlanke Figur und gute Anlagen zum Darstellerischen. Ihre Stimme ist ausgiebig, aber noch so unvollkommen gebildet, daß ihr die energische Inangriffnahme eines neuerlichen gründlichen Gesangsstudiums nicht angelegentlich genug ans Herz gelegt werden kann. Das Organ muß vom gaumigen Ansatze befreit werden, wenn die Sängerin es nicht aufs Spiel setzen will. Die die hellenische Daseinsfreude verkörpernde Chrysothemis ist die musikalisch dankbarste Partie des Werkes, und es muß gesagt werden, daß auch deren Wiedergabe durch die junge Sängerin einen durchaus musikalischen Eindruck machte. Die Stelle »Kinder will ich haben« müßte sie übrigens mit noch höher gestimmter Emphase vorbringen. Herr Werner war ein würdevoller, edler Orest. Alle übrigen Rollen, so wichtig und schwierig sie auch sind, treten hinter die genannten weit in den Hintergrund. Es sei nur gesagt, daß sie durch die Damen Richter, Hermann, Jovanovic, Rothmann, Binder, v. Martinowska, Herma, May, Brussin, v. Strozzi und durch die Herren Classen (Aegist [sic]), Giesen (Pfleger), Koß und Stock eine vortreffliche Wiedergabe erfuhren. Über die trotz der widerstreitendsten Meinungen sehr laute Aufnahme des Werkes wurde bereits berichtet.

*Klavierauszug mit Text von Otto Singer, erschienen im Verlage Adolf Fürstner in Berlin. [Originalanmerkung].
verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz, Adrian Kech

Bibliographie (Auswahl)

  • Wilhelm Kienzl, »›Elektra‹ von Richard Strauß«, in: Wilhelm Kienzl, Betrachtungen und Erinnerungen: Gesammelte Aufsätze, Berlin, 1909, S. 202–210, S. 202–210.

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b45506 (Version 2021‑09‑30).

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