Otto Lessmann
»Die XXVII. Tonkünstler-Versammlung des All. Deutschen Musikvereins zu Eisenach, 19.–22. Juni«
in: Allgemeine Musik-Zeitung. Wochenschrift für die Reform des Musiklebens der Gegenwart. Allgemeine Deutsche Musik-Zeitung, Jg. 17, Heft 27, Freitag, 4. Juli 1890, S. 334

relevant für die veröffentlichten Bände: III/6 Tod und Verklärung
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Die XXVII. Tonkünstler-Versammlung des Allgem. Deutschen Musikvereins zu Eisenach, 19.–22. Juni.

(Schluss.)

Der dritte Tag brachte wieder zwei Konzerte, welche beide sehr wohl geeignet waren, die üblen Eindrücke, an denen die beiden ersten Tage leider allzu reich waren, zu verwischen. […]

Seinen Höhepunkt erreichte das Musikfest zweifellos mit dem fünften Konzert, welches am Sonnabend, den 21. Juni im Theater stattfand. Liszt’s »Tasso« und Berlioz’ König Lear-Ouverture, beide Werke unter Rich. Strauss’ Leitung vortrefflich aufgeführt, fassten, jenes zum Anfang, dieses zum Ende, das interessante Konzert ein, das ausser manchem Bekannten nun endlich die ersten wahrhaft bedeutenden Neuheiten vorführte: eine Burleske für Klavier und Orchester und eine sinfonische Dichtung »Tod und Verklärung«, beide von Rich. Strauss. Steht Strauss in der Burleske noch unter einem gewissen Einfluss von Brahms, so hat er sich in dem sinfonischen Werke zu vollständiger Selbständigkeit durchgerungen, und zwar noch mehr, als in seinem »Don Juan«, den wir im verflossenen Winter zu hören bekamen. Strauss hat sich jetzt rücksichtslos auf den Boden gestellt, den Liszt mit seinen sinfonischen Dichtungen zuerst für die Instrumentalmusik bezeichnet hat, und auf dem allein ein wirklicher Fortschritt unserer Kunst zu erzielen ist. Alles rein Akademische ist so vollständig in den Dienst einer grossen dichterischen Idee gestellt, dass es mich gar nicht wundern sollte, wenn eines Tages »Erklärer« es unternehmen würden, umgekehrt wie jene Beethoven’s und Wagner’s, die aus der Musik einen dichterischen Gehalt herausschälen, die Tondichtungen Strauss’ auf neue Gesetze für die musikalische Formenlehre hin »auszulegen«. Einige Strophen Lenau’s haben dem Tondichter den Anstoss zu seinem Werke gegeben.1 Stille, einsam geht ein Menschenleben zu Ende. Auf dem Todtenbette überblickt der Sterbende rückwärts sein Leben: Kindheit, Jugend, Männerkampf, des Herzens tiefstes Sehnen, alles, was je ihn bewegt und vorwärts getrieben, was er im Geist erschaut und doch nicht erreichen konnte, alles erscheint, Bild um Bild, in seinem Fiebertraum. Da erdröhnt der letzte Schlag, der Leib ist gebrochen, das Auge deckt Todesnacht, aber aus himmlischen Höhen tönt ihm mächtig entgegen, »was er sehnend hier gesucht, was er suchend hier ersehnt«. Es ist ganz erstaunlich, mit welcher dichterischen Kraft Strauss diesem poetischen Vorwurf musikalischen Ausdruck verleiht, mit welcher überzeugenden Wahrheit er das Seelengemälde, das der Dichter ihm vorgezeichnet hat, in Tonfarben ausführt. Wenn Alex. Ritter mit seinen beiden Opern »Der faule Hans« und »Wem die Krone« den Beweis geführt hat, dass Rich. Wagner trotz aller gegentheiliger Versicherungen seiner Widersacher Schule machen wird, ohne dass seine Schüler seine Abschreiber zu werden brauchen, so zeigt Strauss, dass der heilige Geist, der Liszt die anscheinend formlose Form der sinfonischen Dichtung finden liess, in ihm lebendig ist und ihn durch den Zwang der Schule hindurch auf eine Höhe geführt hat, auf welcher er heute allein herrscht. In den beiden letzten Werken von Strauss haben wir es nicht mehr, wie. z. B. bei Geisler, mit dem Suchen und Nichtfindenkönnen eines wohl mit Geist und Fantasie Begabten, aber vielleicht in Folge der Nichtachtung des rein Handwerksmässigen in der Kunst nicht zur Ausreifung gelangten und auch wohl nicht genügend erfindungskräftigen Musikers zu thun, nein, Richard Strauss hat, geleitet von richtigem künstlerischen Instinkt, sein eigenes Genie befruchtet mit dem Geist seiner grossen Vorgänger, und es hat nun ein herrliches Neues hervorgebracht, das ihn nicht nur als einen Nachschaffenden, sondern wieder als einen Vorschaffenden erscheinen lässt. Wie Richard Wagner den Geist Bach’s und Beethoven’s in sich aufgesogen hat, um doch Er selbst zu werden, so hat Richard Strauss das geistige Erbe Wagner’s und Liszt’s angetreten und auf dem Gebiete der Instrumentalmusik den grossen entscheidenden Schritt wirklich vorwärts gethan, für welchen Liszt nach der höchsten Vollendung der sinfonischen Form durch Beethoven den Wegweiser aufgerichtet hat. Strauss beherrscht die musikalischen Formen und Ausdrucksmittel trotz seiner Jugend mit seltener, völlig ausgereifter Meisterschaft, und auch sein ästhetisches Bewusstsein erweist sich als vollkommen gefestet und geklärt, denn trotz allem Fremdartigen, scheinbar sogar Gewaltsamen, schreitet er »fest und unbeirrt« seinem Ziele zu, just wie Jemand, der eben so gehen muss und nicht anders. Die »Burleske« für Klavier und Orchester ist ein hinreissend geistsprühendes Werk von fast märchenhafter Schwierigkeit sowohl für den Solisten wie für das Orchester, und ich glaube nicht, dass irgend einer unserer Pianisten im Stande gewesen wäre, es so vollkommen in geistiger und technischer Beziehung zu spielen, wie Herr d'Albert, dessen Gottesgnadenthum mir kaum jemals grossartiger erschienen ist, als bei dieser Gelegenheit.

[…] Dies Konzert hat mir persönlich eine grosse Genugthung gewährt. Die Leser der Ztg. wissen, wieviel ich mir für die Zukunft unserer Kunst von Dreien der jüngeren Künstler erwarte: von d’ Albert, Rich. Strauss und Felix Weingartner; ein günstiges Geschick hat es nun gefügt, dass die drei jugendlichen Meister hier mitsammen und nebeneinander wirkten, und wer Ohren hatte zu hören, dem mag jetzt meine Hoffnung nicht so ganz unberechtigt erscheinen. […]

Ueberblickt man zum Schluss das künstlerische Ergebniss dieses Musikfestes, so darf man allerdings mit aufrichtiger Freude einzelner ganz bedeutender Eindrücke gedenken. Dass der Allgem. Deutsche Musikverein die beiden Werke von Richard Strauss, die Opernbruchstücke von Felix Weingartner und Hans Sommer, sowie die Sinfonie von d’Albert auf seine diesjährigen Programme gesetzt hatte, sei ihm zum Ruhm angerechnet. […]

1 Das Gedicht zu »Tod und Verklärung« stammt von Alexander Ritter. Nikolaus Lenau hatte das Gedicht zu »Don Juan« geliefert, der vorangegangenen Tondichtung von Strauss.
verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Bibliographie (Auswahl)

  • Auszug in Scott Allan Warfield: The genesis of Richard Strauss's »Macbeth«: [Dissertation], Chapel Hill: University of North Carolina, 1995, S. 433–434.

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b45634 (Version 2022‑11‑18).

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