Brief
Richard Strauss an Franz Strauß
Freitag, 7. Mai 1886, Neapel

relevant für die veröffentlichten Bände: III/3 Aus Italien

[1r]

Liebster Papa!

Nach einer wunderbaren Fahrt mit Dampffschiff nach Capri (herrliches Panorama, alle Berge frisch beschneit) hier angekommen, finde ich Eure lieben Briefe vor, die mich mit allen guten Nachrichten sehr erfreuten. Ich habe zwei herrliche Tage in Capri erlebt, vorgestern waren wir auf dem höchsten Punkt der Insel Monte Salaro [sic] (himmlische Aussicht), waren bis Anacapri mit Esel geritten. Gestern Früh besuchten wir bei argem Sturm die blaue Grotte, die ich geradezu feenhaft fand. Nachmittag regnete es fürchterlich, Abends 6 Uhr rannte ich allein noch nach der Villa des Tiberius hinauf u. hatte dort einen magischen Sonnenuntergang.

[1v] Ganz allein auf dem hohen Felsen, unter mir u. ringsum das schwarze, brausende Meer, alles in sehr düsterem Colorit, nur die Purpurstreifen der untergehenden Sonne es war großartig. Dazu die alten Ruinen u. nur die gewaltige Natur, keine faden Menschen, die irgend ein unnötiges Geräusch verursachen, mir war wunderbar zu Muthe.

Heute kam dafür die Ernüchterung, indem mir durch die Unachtsamkeit der beiden Grafen, die im Wagen saßen, ich auf dem Bock, während der Fahrt vom Hafen nach dem Hotel meine reizende Tasche (wahrscheinlich) gestohlen wurde. Außer der notwendigsten Wäsche und den alten Hausschuhen waren allerdings nur Stricksachen, frische [2r] Strümpfe, Socken, Schlipse, Schürze im Werthe von 25 Fr. darin die ich Euch mitbringen wollte von Capri u. Sorrent; doch thut mir die schöne Tasche leid, die mich freute, so oft ich sie ansah, das ganze ist doch immer ein Spaß von 60. Fr. Na! Trösten wir uns u. lassen wir uns den Humor nicht verderben, Ihr habt auch 60 Fr. Lehrgeld gezahlt in Alessandria. Die Italiener, die der Fremde zu sehen kriegt, sind schon das fürchterlichste, unausstehlichste Chor der Rache, das mir vorgekommen ist.

Im Hotel traf ich heute Herrn Kopta mit Frau aus München, der einen Dr Wiener aus New York besuchte, welcher mir wiederum herzliche Grüße an [2v] Bruno Walter aufgetragen hat.

Mir geht’s ausgezeichnet; durch Erfahrung wird man klug, in 3 Tagen kehre ich nach dem höchst anständigen Rom zurück.

So großartig Michelangelo ist, so würde Papa doch schauen, wenn ich in meiner Musik diese Verkürzungen u. Verrenkungen anbringen wollte. Das Ideal bleibt doch Rafael. Michelangelo verstehe ich zu wenig, um so mehr als das große Bild in der Sixtina so dunkel u. schlecht beleuchtet ist, daß vieles kaum zu erkennen ist. Die Deckengemälde in der Sixtina sind großartig.

Adieu! Herzliche Grüße an Papa, Mama, Hanna, Thuille, Levi, Verwandte pp.

R.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Quellennachweis

  • Original: Bayerische Staatsbibliothek (München), Signatur: Ana 330, I, Strauss, Nr. 96 (Autograph) (Transkriptionsgrundlage)

    • Hände:

      • Richard Strauss (handschriftlich)
    • Autopsie: Keine Autopsie des Originals.

Bibliographie (Auswahl)

  • Edition in Richard Strauss / Willi Schuh (Hrsg.): Briefe an die Eltern 1882–1906, Zürich, Freiburg (Breisgau), 1954, S. 96–97.
  • Genannt/Verzeichnet in Günter Brosche (Hrsg.) / Karl Dachs (Hrsg.): Richard Strauss: Autographen in München und Wien. Verzeichnis (= Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft, Bd. 3), Tutzing, 1979, S. 152.

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/d01753 (Version 2021‑04‑12).

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