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Brief
Max Bruch an Richard Strauss
Dienstag, 10. Dezember 1889, Breslau

relevant für die veröffentlichten Bände: III/3 Aus Italien

[196]

Sehr geehrter Herr Strauss,

Unsere Correspondenz über Ihr »Italien« könnte mit Ihrem gestrigen Briefe geschlossen sein; indessen möchte ich nicht versäumen, einen thatsächlichen Irrthum, in dem Sie sich befinden, zu berichtigen. Sie glauben, die Ablehnung des letzten Satzes und die daraus resultierende Haltung dem zweiten Satze gegenüber müsse man sich wohl aus der allzu »conservativen« Gesinnung des hiesigen Publicums erklären; dasselbe sei zu wenig mit Wagner, Liszt und Berlioz vertraut. Die Dinge liegen aber gerade hier ganz anders. Dr. Damrosch hat das Publicum nicht allein mit Liszt’schen Sinfonischen Dichtungen reichlich genährt, sondern geradezu überfüttert, und was mich betrifft, so habe ich während meiner hiesigen dienstlichen Thätigkeit nicht weniger als 13–14 Stücke von Wagner in unseren Concerten zur Aufführung gebracht, und mehrere davon 2 und 3 mal, so daß der Name Wagner durchschnittlich in jedem Winter 5 mal auf den Programmen erschien. Auch gibt es hier, wie überall, eine starke Wagner-Parthei, die Sie aber am Abend des 19. Novbr. völlig in Stich gelassen hat. –

[197] Da wir keine Wagner-Gesellschaft sind und keinem einzelnen Künstler dienen, sondern der Kunst, so dürfte dies allen billigen Anforderung genügt haben. Auch die Unterlassungssünden meines Vorgängers Scholz im Bezug auf Berlioz habe ich, so viel an mir war, gut gemacht; ich hab u. A. »Harold in Italien«, die »Lear-Ouvertüre«, den »Carneval romain«, die Liebesscene aus »Romeo und Julia«, das Fest bei Capulet etc. gebracht. Für Liszt habe ich freilich sehr wenig gethan, weil ich über das Schaffen dieses großen Pianisten und hochherzigen Menschen leider nicht anders denke als Rubinstein, Joachim, Brahms, etc. Wie ich persönlich über alle diese Compositionen denke, von Wagner und Berlioz, kommt hier gar nicht in Betracht, ich hab nur die Thatsache constatiert, daß auch Werke dieser Richtung hier sehr oft vorgeführt worden sind, daß das Publicum damit völlig vertraut ist. Ihre Annahme beruht also auf ganz irrigen Vorraussetzungen – hier ist der Grund der ungünstigen Aufnahme des letzten Satzes nicht zu suchen. –

Ich glaube Ihnen meinen Beweis von wahren und ernsthaftem Interesse an Ihrem Werk und Ihrem gesamten Schaffen zu geben, wenn ich Sie nun auch um eine Aufklärung bezüglich des II. Satzes bitte. Die Beziehungen der Überschrift »In Rom’s Ruinen« etc. zum musikalischen Inhalt dieses Satzes sind mir absolut unverständlich. Den gebildeten (und namentlich den historisch gebildeten und ethisch entwickelten Menschen) wird in den Ruinen des alten Rom die eine Empfindung von der Vergänglichkeit alles Irdischen beherrschen. A. W. v. Schlegel sagt mit vollem Recht in seiner noch heute geschätzten Elegie »Rom«:

»Hast Du das Leben geschlürft an Parthenopes üppigem Busen
Lerne den Tod nun auch über dem Grabe der Welt«.

Mag man nun in Roms Ruinen an die großen Männer der republicanischen Zeit, an die großen oder verruchten Imperatoren, an Bürgertugenden oder Corruption oder das Martyrium der Christen, an kriegerische Tugend oder spätere Verkommenheit, an sybaritische Gelage oder die Katakomben, an große oder liederliche Päpste denken, dies alles ist dahin – und was sich auf den grandiosen Trümmern dieser Herrlichkeit wieder aufgebaut hat, wird eines Tages ebenfalls dahinschwinden. Von allen Seiten drängen sich also hier denkenden Menschen die allerernsthaftesten Betrachtungen auf. Hierzu würde der musikalische Inhalt Ihres ersten Satzes im Ganzen recht gut passen; was aber den II. betrifft, so glaube ich nicht, daß jemals ein denkender Mensch in den Ruinen von Rom solche Empfindungen gehabt hat, wie Sie in Ihrem II. Satz ausdrücken.

Soll etwa das Trompeten-Motiv, welches den ganzen Satz beherrscht, eine Art von Signal für die Eröffnung der Spiele im Flavischen Amphitheater sein? Und sollen etwa die flüchtigen Schatten, die in dem kl. Emoll-Gesang der Holzbläser über die Oberfläche des Bildes huschen, Trauer über die untergegangenen Herrlichkeiten bedeuten? Und wer wäre überhaupt imstande, inmitten der gewaltigen und tiefernsten Ruinen des alten Rom an [198] »sonnige Gegenwart« zu denken?! Die haben wir in Neapel, aber nicht in Rom! – Legen wir aber einmal den Nachdruck nicht auf die Überschrift »In Roms Ruinen« sondern vielmehr auf den Zusatz »Fantastische Bilder« etc.

Hier hätten wir es also mit einer Art von Vision zu thun, zu deren Schilderung der Musik manche Mittel zu Gebote stehen. Wie verträgt sich aber dann mit dieser Vorstellung der starke Realismus dieses Satzes, die meist sehr laute, ja etwas lärmende Haltung, der freudige und jauchzende Charakter vieler Stellen?!

Wohin ich also blicke – ich kann mir den Satz nicht erklären und halte ihn deshalb – verzeihen Sie mir meinen Freimuth – für verfehlt. Denn die Idee deckt sich in keiner Weise mit der musikalischen Ausführung, und sowohl der denkende (u. vorurtheilslose) Künstler als das unbefangene Publicum stehen vor einem unlösbaren Räthsel. –

Warum Sie als Haupt-Motiv des Finale ein unbedeutendes Liedchen1 gewählt haben, das man in Neapel auf allen Straßen bis zum Überdruß hört, ist mir auch nicht klar. Es gibt so viele schönere Tarantellen und Saltarello’s etc. – Über die unleugbar vorhandenen »Excentritäten« des Finale werden Sie in 5 Jahren nicht anders denken wie ich heute. –

Wenn Sie mir dies alles übelnehmen, so muß ich mir das gefallen lassen.

Sie können dann hergehen und mich Ihren Freunden (die Ihnen gewiß derartiges nie gesagt haben) als einen »beschränkten Reactionär« denuncieren. Wahre Talente (und Sie sind eines) können aber auch abweichende Meinungen ertragen – und daß sich hier einmal eine Stimme aus einem Ihnen fremden Kreise vernehmen läßt, kann Ihnen nur interessant sein. Im Übrigen hat mich Bülow im vorigen Jahr geradezu aufgefordert, mich gelegentlich mit Ihnen über Einiges auszusprechen – und da sich jetzt gerade die Veranlassung bot, so habe ich es gethan. Mit besten Wünschen für Gegenwart und Zukunft, bestens grüßend

Ihr sehr ergebener

Max Bruch

Sie sehen, wie mich das Interesse am Gegenstand fortgerissen hat – ein geplagter Musikdirector schreibt sonst im Winter keine so langen Briefe!

1Dieses Motiv ist das damals entstandene, heute noch bekannte neapolitanische Schlagerliedchen über die Zahnradbahn auf den Posilipp: »Funiculi – Funicula«. [Anmerkung in der Transkriptionsgrundlage].

Bemerkung

Aus der Transkriptionsgrundlage geht nicht hervor, welche Unterstreichungen von Bruch stammen und welche von Strauss ergänzt wurden, da er, wie in d01975 angedeutet, beabsichtigte, den Brief an seinen Vater weiterzuschicken.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Quellennachweis

  • Original: Unbekannt

    • Hände:

      • unbekannt
    • Autopsie: Keine Autopsie des Originals.

Bibliographie (Auswahl)

  • Edition in Gabriele Strauss (Hrsg.): Lieber Collega! Richard Strauss im Briefwechsel mit zeitgenössischen Komponisten und Dirigenten, Bd. 1 (= Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft, Bd. 14), Berlin, 1996, S. 196–198. (Transkriptionsgrundlage)

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/d02091 (Version 2021‑04‑12).

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