HÔTEL–BRISTOL
VARSOVIE.
Lieber Papa!
Bin wieder mal in Warschau, um heute Abend Domestica zu dirigiren, die recht gut gehen wird. Auf solchen Concertreisen gibt’s eher mal ein Stündchen zum Briefschreiben als in Berlin, wo’s die letzte Zeit arg viel zu thun gibt. Zuerst war Professor Exter aus Feldwies als Logirbesuch da, mit dem betrachtete ich Berlin als Fremder, rannte täglich in’s Museum u. Abends in ein Theater. Jetzt ist Singer als Logirbesuch da, um mir im Auftrag von Peters bei der Fertigstellung der Berliozschen Instrumentationslehre zu helfen, was übermorgen beendet sein wird. Nächste Woche habe ich dann die lustigen Weiber neu einzustudiren, u. am 16.ten November gehts schon wieder auf Reisen (16. u. 17.ten mit Possart in Cassel u. Göttingen)[,] 22.ten mit Pauline in Antwerpen, 25.ten mit ihr in Wiesbaden. Mittwoch hatte ich für die Festvorstellung den Freischütz sehr schön neueinstudirt. Nach dem 2. Akt ließ mich der Kaiser in’s große [1v] Foyer rufen u. war äußerst liebenswürdig. Wie noch nie! Er bedankte sich für den Freischütz, aus dem ich etwas »ganz Neues gemacht hätte«! Wie ich das angefangen hätte: Ich sagte, ich hätte nur die Partitur von allem Schlendrian u. aller falschen Tradition gesäubert. Er besprach meine Auffassung der Agathenarie u. wie schön die Chöre im IEnsemble (o diese Sonne!) gewesen seien u. meinte, er habe noch nie solch einen schönen Freischütz gehört. Dann sprach er über Herodes u. Mariamne von Hebbel u. empfahl mir dies als Operntext; dann sprachen wir über die Nibelungen, recht anziehend u. interessant.
Für mich war die ganze Unterredung in so ferne bedeutungsvoll, als vorher Hülsen befürchtet hatte, der Kaiser würde Salome nicht gestatten. Hülsen hatte inzwischen mit dem Kaiser, der biblische Stoffe nicht gerne auf der Bühne sieht[,] gesprochen u. es war nun offenbar gute Absicht des Kaisers mir entgegenzukom̅en, indem er mir selbst einen biblischen Stoff, der noch dazu recht heikel ist, vorschlug. Ich benützte natürlich sofort die Gelegenheit, von meiner Salome anzufangen, was der [2r] Kaiser ganz freundlich aufnahm. Als ich dies dann sofort Hülsen mitteilte, sagte dieser: sehen Sie, der Kaiser ist gar nicht so schlim̅. Offenbar hat der Kaiser jetzt selbst die Absicht, der Jugend gegenüber einzulenken, was ich aus mancherlei Bemerkungen Hülsens entnahm. Jedenfalls scheint jetzt nichts ernstliches mehr einer Berliner Aufführung von Salome entgegenzustehen.
Die zweite große Neuigkeit ist, daß Weingartner die Berliner Conzerte aufgeben will, er hat schon seine Entlassung eingereicht. Das Orchester hat bereits mit mir wegen der Übernahme der Concerte verhan[…]delt. Weingartner will sich zur Ruhe begeben, er glaubt offenbar, daß sein [?] vieles Dirigieren Schuld ist, wenn er als Componist keine nennenswerthen Erfolge erzielt. Na, mir kanns recht sein.
Inzwischen sind unsere herrlichen Anitquitäten aus Holland angekom̅en u. machen uns kolossale Freude, da sie prachtvoll u. sehr billig erstanden sind: ein Schrank in Pallisander u. Ebenholz, einer in Nußbaum, einer in Eiche, eine Standuhr u. 5 alte Delfter Vasen. Pauline, die sich schrecklich im Hauswesen abstrapazirt, ist im̅er nicht recht wohl; ihr Hausfrauenehrgeiz ist eben einfach nicht [2r] zu bändigen. Hoffentlich seid Ihr wohl u. vergnügt.
Heute Abend 11.30 nach dem Conzert gehts gleich wieder nach Berlin.
Tausend Grüße Dir, der lieben Mama u. Rauchenbergers
Euer
Richard.