Brief
Richard Strauss an Hugo von Hofmannsthal
Sonntag, 22. Dezember 1907, Berlin

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
[1r]

Sehr geehrter Herr von Hofmannsthal!

Ihr lieber Besuch neulich hatte mich insofern überrascht, als ich nicht mehr die Zeit gefunden hatte, vorher die »Tochter der Luft«, wie ich wollte, nochmals durchzulesen. Ich hole nunmehr nach, was eine neue Lekture [sic] des Calderon’schen Werkes in Ihrenmeinen Gedanken rege gemacht.

Wenn ich mich Ihres eigenen Entwurfes noch recht erinnere, so schloss der erste Akt bei Ihnen mit der prunkvollen Ankunft des Königs. Ich meine, das ist daramdramatisch etwas zu wenig, und ich glaube, Sie stellen sich auch hier die rein äusserliche Wirkung der Musik mächtiger vor, als sie nach heutigen Verhältnissen, wo so viele Effekte schon abgebraucht sind, noch sein kann. Ich habe das Gefühl, es müsste schon in den ersten Akt eine starke dramatische Verwickelung [sic] hinein, und möchte Ihnen vorschlagen, sich zu überlegen, dass die ganze Memnon-Tragödie in diesen Schluss des ersten Aktes hineinverdichtet wird. Was meinen Sie zu folgender Disposition?

Anfang des Aktes: Sonnige, idyllische Stimmung, unterbrochen durch den Gegensatz der ersten düsteren Prophezeiungen des Teiresias. Ankunft des Memnon, der Semiramis findet, sich mit ihr verlobt, und, nachdem er von ihr den Treueschwur empfängt, abgeht, um den auf der Jagd befindlichen König vorzubereiten und seinen Plänen gefügig zu machen. Während Memnon fort ist, Ankunft des Königs, der, wie vielleicht bei Calderon, durch Semiramis [2r] gerettet werden kann. Der König verliebt sich in Semiramis. Sie Rückkehr des Memnon, der den König verfehlt hat, und nun bereits das Aufeinanderplatzen Memnons und des Königs, das mit der Verbannung und Blendung des Memnon schliesst, nachdem sich Semiramis für den König entschieden hat. Hierauf wird Semiramis unter Blitz und Donner, wie bei Calderon, zur Königin erhoben. Dies könnte bereits der Abschluss sein, wenn Sie es nicht vorziehen, nach Abgang des ganzen Hofes mit Semiramis noch dem im Sturm geblendet herumirrenden Memnon eine grosse Soloscene zu geben, wie sie sich in der Oper als Abschluss immer sehr gut macht. Ich bemerke hierzu, dass in der Oper alle Massenscenen, grosser Ensembles schlechte AbAktschlüsse sind, dagegen Soloscenen oder Liebesduette, entweder mit jubelndem Fortissimo oder ganz poetisch ausklingenden Pianissimo-Schlüssen[,] das dankbarste ist.

Wenn nun so der erste Akt die Linie hätte vom sonnig‑ernsten, breiten Anfang bis zur tragischen Katastrophe, Sturm und wilden Flüchen, so müsste der zweite Akt mit einem sehr glänzend heiteren Bilde beginnen, also etwa entweder: Semiramis bei der Toilette, wie Sie’s, glaube ich, schon selbst gedacht hatten, oder Semiramis in einer Liebesaffaire befangen, von der sie dann, durch die Trompeten und SchlägerSchlachtlärm geweckt[, ]zum Kampf hinausstürmt. Ob Sie nun Festlichkeiten und Ballet etc. hier in diesem zweiten Akt bringen wollen, etwa zu Anfang, oder nach Semiramis[’] Rückkehr als Siegerin[,] muss ich Ihnen überlassen. Der zweite Akt schliesst doch wohl, wenn ich mich recht erinnere, mit dem grossen Liebesduett, in welchem der Liebhaber den Fluch von Semiramis[’] totbringender Nähe empfindet und dahinstirbt. Die wilde Verzweifelung [sic] Semiramis’ ist auch ein guter Aktschluss, wenn Sie nicht [etwa] hier [3r] die Ankunft des Ninias mit hereinbringen wollen, der,[ ]vom Volke bejubelt, ankommt, und vor dem sich Semiramis, wie bei Calderon, in ihr finsteres Gemach zurückzieht, und unter dem Eindruck des Todes ihres Liebhabers der Krone entsagt. Doch ob Sie dieses Niniasdrama hineinbringen wollen, überlasse ich natürlich ganz Ihnen.

Nun könnte man immerhin in einem dritten Akt den schlecht regierenden Ninias bringen, der im Schlafe von Semiramis überwältigt wird., und an dessen Stelle dann Semiramis rechtspricht. Dieser Akt könnte eventuell in den hängenden Gärten spielen, auf die ich sehr ungern verzichten möchte, und ich möchte Ihnen doch dringend anraten, sich zu überlegen, wo man diese hängenden Gärten anbringen kann, als Dekoration natürlich, da sie doch das EigentlicheEinzige ist, was das grosse Publikum von Semiramis kennt, und was jeder eventuell auf der Bühne auch sehen möchte. Sie glauben nicht, wie dumm das Publikum heute immer noch ist[…], und wie es mehr als je auf dekorative Kunst hereinfällt. Ein ergänzendes Beispiel hierfür erleben wir jetzt hier wieder, wo die alte ausgefallene Aida von Verdi, bloss weil sie[ ]wie üblich[ ]neu ausgestattet ist, wöchentlich 2 mal ausverkauftes Haus erzielte, allen Wagner etc[.] schlägt, nur weil eben die neue schöne egyptische [sic] Ausstattung da ist. Also bitte sparen Sie bezüglich prunkvoller Ausstattung, reicher dekorativer Gegensätzen bei Semiramis keine Kosten und Mühen. Meine Ausstattungen waren sowieso bisher immer so billig, und einmal können die Theaterdirektoren für mich schon in ihren Geldbeutel greifen.

Ich hoffe, dass ich im Februar oder März, wenn Sie wieder nach Berlin kommen, wobei ich Ihnen verspreche, dass mein Original von Frau keine Schlüssel mehr zur Tür hineinwerfen wird, [4r] oder erstbestim̅t am ersten März, wenn ich nach Wien komme, die Freude habe, von Ihnen schon Genaueres über Semiramis zu hören, für die ich anfange, mich immer mehr und mehr in der Idee zu begeistern. Ich bitte Sie nur um eines: denken Sie bei der Komposition des Textes garnicht an die Musik, das besorge ich allein, und schaffen Sie mir ein recht handlungs-[ ]und gegensatzreiches Drama, mit wenig Massenscenen, aber zwei bis drei sehr guten ausgiebigen Rollen.

Was unsere neuliche Unterredung über Elektra betrifft, so meine ich, dass wir Aigisth doch nicht ganz weglassen können. Er gehört unbedingt mit zur Handlung und muss miterschlagen werden, womöglich vor den Augen des Publikums. Wenn es nicht möglich ist, ihn früher nach Hause zu bringen, sodass er unmittelbar nach Klytemnestra erschlagen wird, so lassen wir die nächste Scene so[,] wie sie jetzt ist, aber Sie überlegen sich’s vielleicht.

Es ist nicht gut, dass nach dem Mord von Klytemnestra die ganzen Weiber gelaufen kommen, dann wieder verschwinden, dann nach dem Morde des Aigisth mit Chrysostem[i]s wieder ankommen. Das sind zu stark gebrochene Linien. Vielleicht fällt Ihnen da doch noch etwas ein. Könnte man nicht Aigisth nach Hause kommen lassen,[ ]unmittelbar nachdem Orest ins Haus getreten ist? Und dendie Mord[e] dann etwas kurz hintereinander vollziehen, etwa in der Weise, dass man in dem Moment, wo Aigisth ins Haus getreten, die Tür hinter ihm geschlossen ist, von fern den Schrei der Klytemnestra hört, und nach einer kurzen Pause dann die Ermordung des Aigisth vollzogen wird, wie sie schon steht, und hierauf dann die ganzen Frauen und Schlussscene? Ich meine wohl, dass das ginge.

Bitte teilen Sie mir gelegentlich Ihre Meinung mit, und schicken Sie mir natürlich,[ ]sobald Sie mit Semiramis etwas fertig [5r] haben, und wenn es auch nur Entwürfe sind, dies zu, da es mich, wie Sie es sich wohl denken können, furchtbar interessiert.

Mit herzlichstem Gruss
Ihr verehrungsvoll ergebener
DRichardStrauss.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Adrian Kech, Sebastian Bolz

Quellennachweis

  • Original: Bayerische Staatsbibliothek (München), Signatur: Cgm 8170, Nr. 9 (Typoskript) (Transkriptionsgrundlage)

    • Hände:

      • unbekannt (maschinenschriftlich)
      • Richard Strauss (handschriftlich)
      • unbekannt (handschriftlich)
    • Autopsie: Keine Autopsie des Originals.

Bibliographie (Auswahl)

  • Edition in Richard Strauss / Hugo von Hofmannsthal / Willi Schuh (Hrsg.), Briefwechsel (= Serie Musik Piper/Schott, Bd. 8252), München und Mainz, 1990, S. 30–33.
  • Auszug in Hugo von Hofmannsthal / Mathias Mayer (Hrsg.) / Klaus E. Bohnenkamp (Hrsg.), Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, [Bd.] VII: Dramen 5, Frankfurt am Main, 1997, S. 430–431.
  • Genannt/Verzeichnet in Günter Brosche (Hrsg.) / Karl Dachs (Hrsg.): Richard Strauss: Autographen in München und Wien. Verzeichnis (= Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft, Bd. 3), Tutzing, 1979, S. 74. Nr. 9.

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/d20063 (Version 2021‑09‑30).

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