Brandes, Friedrich
»Salome. Drama von O. Wilde. Musik von R. Strauß. Uraufführung im Königlichen Opernhause«
in: Dresdner Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Landgerichtes, des Königlichen Amtsgerichtes, der Königlichen Hauptzollämter I und II, der Königlichen Polizeidirektion und des Rates zu Dresden, sowie des Gemeindevorstandes und Gemeinderates zu Blasewitz, Jg. 176, Heft 342, Sonntag, 10. Dezember 1905, S. 2–3

relevant für die veröffentlichten Bände: I/3a Salome
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Salome.
Drama von O. Wilde, Musik von R. Strauß.
Uraufführung im Königlichen Opernhause.

Die Königliche Hofoper hat wieder einmal eine Tat vollbracht, die die Aufmerksamkeit der ganzen musikalischen Welt auf sich lenken muß. Nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern auch die Bewunderung. Eine Kühnheit, die durch das Bewußtsein voller Kraft erklärt und gerechtfertigt wird, war es, die Salome von Wilde-Strauß zur Aufführung anzunehmen. Wer den Klavierauszug durchstudierte, mußte über den Wagemut erschrocken sein. Schier Unmögliches schien hier gefordert. Diese Absonderlichkeit und Schwierigkeit des musikalischen Gefüges war noch nicht dagewesen.

Man weiß, daß Salome vom Wiener Hofoperntheater der Reihe nach angenommen, verboten, wieder angenommen und abgelehnt oder abgesetzt worden ist. Ob das einzig mit der Bedenklichkeit des Stoffes zusammenhängt? Auch die Frage der Schwierigkeit ist vielleicht endgültig mitbestimmend gewesen.

Das für unmöglich Gehaltene hat das Dresdner Hoftheater geleistet. Mit der unter der Leitung des Herrn Generalmusikdirektors v. Schuch glänzend verlaufenen Uraufführung der Salome zeigte es, daß es weiterhin an der Spitze der großen Opernhäuser zu marschieren gewillt und befähigt ist. Nicht nur, daß Herr Generalmusikdirektor v. Schuch von seiner Unentbehrlichkeit als Dirigent auf dem Gebiete des komplizierten Musikdramas wieder einmal überzeugte, auch der Reichtum an durchweg hervorragenden künstlerischen Kräften auf der Szene und im Orchester, nicht zuletzt die Kunst einer schlechten, wunderbar stimmungsvollen, geradezu zauberischen Inszenierung trat deutlich zu tage.

Das Drama von Oskar Wilde ist hier bereits durch eine Aufführung des Reinhardtschen Theaters aus Berlin bekannt. Man erinnere sich des schlichten Berichtes in der Heiligen Schrift: An dem Geburtstage des Herodes tanzte die Tochter der Herodias in der Mitte vor allen Gästen, und es gefiel dem Herodes. Darum verhieß er ihr mit einem Eidschwur, er wolle ihr geben, was immer sie von ihm begehren würde. Sie aber sprach, nachdem sie von ihrer Mutter war unterrichtet worden: »Gib mir hier auf dieser silbernen Schüssel das Haupt des Jochanaan, des Täufers.« Und der König ward traurig; allein des Eidschwures und derer wegen, die mit zu Tische saßen, befahl er, es zu geben. Und er sandte hin und ließ den Jochannaan [sic] enthaupten im Kerker. Und sein Haupt ward hergebracht auf der Schüssel und dem Mägdlein gegeben, und sie brachte es ihrer Mutter.1

Auch in Flauberts Erzählung Herodias, durch die Wilde zu seinem Drama angeregt wurde, ist der Wunsch der Mutter noch bestimmend. Aber die biblische Darstellung war Wilde, wie sein Freund Carillo im Inselalmanach mitteilt, zu farblos, zu trocken, hatte keine Pracht, keine Hintergründe und keine Laster. Besonders keine Laster. Aber die Tochter, die gehorcht, der armen Tochter, die mit dem blutigen Geschenk sich in die Arme der Mutter wirft und es ihr ausliefert, tut not, daß die Jahrhunderte Träume und Gesichte um sie häufen, damit sie der Typus der letzten Leidenschaft wird. Nach der wirklichen Salome, deren Bild die Zeiten verwischt hatten, suchte der englische Dichter. »Allein deswegen möchte ich nach Spanien, um in Prado jene Salome des Tizian zu sehen, vor der Tintoretto ausrief: »Endlich einmal einer, der zuckendes Fleisch malt.« Sie richtet sich triumphierend auf und hebt auf einer silbernen Schüssel den Kopf des Täufers hoch.« Vor dem Gemälde des Rubens mußte Wilde an eine apokalyptische Stallmagd denken, die göttliche Salome des Lionardo war zu unkörperlich, zu kalt, und die anderen, die von Dürer, Ghirlandajo, van Thulden, Leclerc, genügten ihm schon gar nicht. Die berühmte Salome des Regnault war ihm eine Zigeunerin mit englischem Teint. Nur das Gemälde von G. Moreau zog ihm den Schleier von der Seele der legendären Tanzprinzessin seiner Träume.

Die Gestaltung der Salome war für Wilde ein langes Hin‑ und Herschwanken. Einmal sollte sie sanft und keusch sein und »vor Herodes tanzen wie unter einer göttlichen Eingebung, um endlich die Strafe fordern zu dürfen für den lügnerischen Feind Jehovahs«. Ein andermal will er von einer »unwissenden Salome, die ein bloßes Werkzeug ist«, nichts wissen. »Auf dem Bilde von Lionardo zeigen ihre Lippen die schrankenlose Grausamkeit des Herzens; ihre Pracht muß ein Abgrund sein, ihre Lüste ein Ozean«. Schließlich hat ihn das Verlangen, die Sarah Bernhardt zu sehen, »verjüngt bis zur Pubertät, nackt vor dem Tetrarchen tanzend«, getrieben, seine Salome (französisch, nicht englisch) zu schreiben.

Wildes Drama ist ein grausiges Charakterstück aus der Zeit der jüdischen Decadence. Elementare, tierische Wildheit und Überkultur, harte Grausamkeit und abergläubische Furcht, sinnliche Lüsternheit und verzücktes Entsagen wirbeln durcheinander. Es ist wie ein furchtbares, drückendes Traumbild. Wie schon die Lüge, so ist die Sünde, das krankhafte Gelüsten für Wilde ein besonders wichtiger Stoff der Darstellung. Man sagt zuweilen, die Kunst werde zu krankhaft; soweit die Psychologie in betracht kommt, meint Wilde, war sie nie krankhaft genug. Wir haben erst an die Haut der Seele gerührt, weiter nichts. Noch eins: Weshalb können nur die Menschen nicht von dem alten ausgetretenen Sündenpfad abweichen und ein bißchen originell in ihren Lastern sein, wenn sie schon einmal sündigen müssen? Es gibt Sünden, die schöner sind als irgend was in der Welt, Sünden und Laster, die unwiderstehlich immer wieder den anziehen, der die Schönheit über alles liebt.

So viel zur Kenntnis der Wildeschen Psychologie. Man wird hiernach wohl Einzelheiten der Salome nicht schön finden, aber doch ein Verhältnis zum Drama gewinnen können. Auch ein Verhältnis zu der Musik von R. Strauß. Nach Wilde ist es lächerlich, die Leute in gute und böse einzuteilen. Die Leute sind entweder amüsant oder langweilig. Strauß hat längst bewiesen, welcher Rangordnung er angehört. Kein Mensch wird behaupten können, daß er langweilig wäre. Er kann einen ärgern oder verletzen, aber Langweiligkeit ist ihm nicht nachzusagen. Dazu ist er viel zu berechnend, viel zu sehr Artist. Er erhält fortwährend in Spannung. Er ist ein weltmännisch erfahrener und kluger Mann; der es versteht, seine Kompositionen zu Tagesereignissen zu machen, der es versteht, dem Zuge der Zeit zu folgen. Er gab die Musik des Übermenschen (Zarathustra) und die des Überbrettls (Feuersnot), beides mit einem bewundernswerten Aufwand an Geist und Können, einem technischen Können, das zurzeit unerreicht ist. Und jetzt ist es die Überkultiviertheit, wie Wilde sagen würde, deren Komponist er geworden ist. Die an der Grenze des krankhaften Wahnwitzes stehende Überkultur, die oben gekennzeichneten Mischungen. Um es am kürzesten zu sagen: die Hysterie.

Um dieses Letzte, dieses Erste und Letzte, dieses Elementare und Greisenhafte, diese Zwiespältigkeit, diese schrankenlose Wildheit und Entartung in Musik zu setzen, ist keiner berufen wie R. Strauß, in der Geschichte der Musik eine der merkwürdigsten Erscheinungen. Fortschrittlichkeit und Rückständigkeit mischen sich ganz sonderbar in ihm. Er schreitet über Wagner, dessen System er sich völlig angeeignet hat, hinaus, vermehrt das Orchester um die Hälfte und findet neue Instrumentaleffekte verblüffender Art. Man sehe das Orchesterzwischenspiel mit den geistreichen Einfällen für Kontrafagott und Kontrabaß, nachdem Jochanaan fluchend wieder in die Zisterne hinabgestiegen ist. Das sind [?]2 Beobachtungen genialer Art und Bereicherungen der musikalischen Naturnachahmung. Und er ist rückständig wie kaum einer mit seiner vertikalen Stimmführung, die wie die Übertragung des niederländischen [Vokalstils] des Mittelalters auf das instrumentale Gebiet anmutet. Diese Kompliziertheit ist von berauschender Wirkung, aber sie verwirrt auch und betört, sie martert und kitzelt, zerschlägt geradezu, sie brutalisiert und spannt an bis zur Erschöpfung. Wagner berauscht ja auch. Aber es ist ein dionysischer Rausch. Seine Instrumente sind noch Individualitäten, die klar sprechen. Seine Wirkung ist reinigend, läuternd. Bei Strauß hat das einzelne Instrument gar nichts mehr als eine verwendbare Maschine zu bedeuten. Die Suggestion durch den Zusammenklang eines ungeheuren Apparates ist alles. Zugeben muß man, daß diese Suggestion erreicht wird. Überall, auch in der Salome. Hier sogar trotz der anderen Rückständigkeit, die alle Werke von Strauß seit Tod und Verklärung aufweisen: dem Schema, nach dem alle seine sinfonischen Orchesterwerke ausgeführt sind. Arbeit [?] nach der Schablone, die Strauß ein für allemal sicher beherrscht. Allerdings einer staunenswerten Schablone, die jeden, dem die früheren Kompositionen von Strauß unbekannt sind, verblüffen und blenden muß. Es ist das eine sogenannte Kontrapunktik, in der die Irrungen und Wirrungen der menschlichen Leidenschaften dargestellt werden, und als Konklusion eine regelmäßig wiederkehrende Jubel‑ oder Erlösungsmelodie in Terzen und Sexten. Gar nichts Neues etwa. Die Grundlinien finden sich in den Beethovenschen Sinfonien und Ouvertüren, die allerdings nicht schematisch sind, sondern jedes [sic] für sich ihre Lebenszeichen tragen, und in den sinfonischen Dichtungen von Liszt, die ja Strauß vergrößert und verbreitert hat, was für den weiteren Ausbau dieser Gattung ein großes Verdienst bedeutet. Ich sage: eine sogenannte Kontrapunktik. Denn eigentlich ist es gar keine. Die Gesetzmäßigkeit ist nicht mehr musikalisch, sondern mathematisch. Strauß ist nicht mehr Musikpoet, sondern Architekt. Seine Rechenarbeit ist bewundernswert, besonders deswegen, weil ihr alle Trockenheit benommen ist. Daß er dies fertig bringt, ist Straußens größte Kunst. Wie sie zu stande kommt, ist dem Kenner seiner Tondichtungen kein Geheimnis: glänzende Ausnützung des ins Riesenhafte vermehrten Orchesters, das mit jedem Werke größer wird, scharfer Blick für die suggestive Wirkung des Chromas und der Rücksichtslosigkeit der Stimmführung, wodurch die Spannung wie bei einem Naturereignis erzielt wird, neue geistreiche Einfälle für Instrumente, die sonst Nebenrollen spielen (in der Salome zum Beispiel das Kontrafagott und der Kontrabaß), Melodieführung in mehreren Oktaven durch verstärkte Hörner und Violoncells und schließlich auf ruhenden Bässen ein Schwimmen in orchestralem Wohllaut von berückender Wirkung. Alles aufs Übermenschliche, Riesengroße zugeschnitten. Ob aber diese Gesamtwirkung von der Nervenkraft der Genießenden auszuhalten ist, muß weiteren Erfahrungen überlassen bleiben. Jedenfalls hat Strauß eine ungeheure Wirkung des Massen[3]apparates erreicht, bei dem sein Dichter, der Paradoxist Wilde, erschrecken müßte. Denn er sagt: Musikalische Leute sind so lächerlich unvernünftig; sie wollen einen immer dann völlig stumm [?] haben, wenn man völlig taub sein möchte. Und an anderer Stelle: Die einfachen Genüsse sind die letzte Zuflucht komplizierter Menschen.

Strauß bleibt auch als Opernkomponist im Fahrwasser der sinfonischen Dichtung. Die Salome, wörtlich auf Wildes Drama mit ganz wenigen Strichen komponiert, ist ein Zyklus von drei sinfonischen Dichtungen: Johannes des Täufers Fluch und Salomes Wandlung, Salomes Tanz und Salomes Liebeswahnsinn. Alles andere sind Beigaben. Vorbereitende und überleitende [?], meist hochinteressant in den Details, besonders das Ensemble der fünf Juden, die über die Religion streiten.

Über die Aufführung, die wieder einen Ruhmestitel in der Geschichte der Dresdner Oper bedeutet, haben wir schon im allgemeinen gesprochen. Für die Titelrolle konnte als Sängerin nur Frau Wittich in frage kommen. Und sie hat ihre ebenso anstrengende wie unsagbar schwierige Partie in dieser Hinsicht glänzend bewältigt. Daß sie die sinnliche Gier und zuckende Leidenschaftlichkeit, die Paradoxie der Gefühlsausbrüche nicht erschöpfen würde, war vorauszusehen. Ein idealer Fidelio kann keine Salome sein. Dichter und Komponist stellen damit Ansprüche so vielfältiger und gegensätzlicher Art, daß alle Erfordernisse nur ausnahmsweise in einer Künstlerin sich vereinigen werden. In der Oper ist ja schließlich die Musik das Wichtigste. Und musikalisch war Frau Wittichs Leistung allerersten Ranges. Darstellerisch und stimmlich zugleich ragte der Herodes des Herrn Burrian hervor, der die Mischung dieses Herrenmenschen, lüsternen Dekadenten und abergläubischen Fatalisten treffend kennzeichnet. Dem Priester Jochanaan, seinen Flüchen und Prophezeiungen, lieh Herr Perron den Zauber seiner zu Herzen gehenden Stimme. Bei den Gesängen aus der Zisterne heraus könnte aber das Geheimnisvolle, Schaurige noch durch ein Sprachrohr oder dergleichen gesteigert werden. Auch alle anderen Rollen sind mit den besten Kräften besetzt: Fräulein v. Chavanne als Herodias, Fräulein Eibenschütz als Page, Herr Jäger als Narraboth usw. Für die Leistung des auf 120 Künstler verstärkten Orchesters unter v. Schuchs hinreißender Führung ist kein Wort des Lobes zu hoch gegriffen. An jedem Pulte saßen Künstler und Virtuosen zugleich. An den Höhepunkten, den drei genannten sinfonischen Dichtungen, ergaben sich Klangwirkungen von zauberischer und berückender Schönheit. Auf die wunderbar stimmungsvolle Inszenierung, die Herrn Wirk aus München zu verdanken ist, haben wir schon hingewiesen.

Die anderthalb Stunden dauernde Vorstellung fand vor ausverkauftem Hause statt und endete mit einem sehr großen Erfolge für den anwesenden Komponisten und die Künstler unserer Hofoper und Königlichen Kapelle. Außer den Darstellern, die gegen vierzig mal hervorgerufen wurden, mußten auch die Herren Strauß, v. Schuch und Wirk oftmals erscheinen.

1 Vgl.: https://www.bibleserver.com/text/HFA/Matth%C3%A4us14,6-11
2Transkriptionsgrundlage an dieser Stelle schadhaft.
verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Claudia Heine

Bibliographie (Auswahl)

  • Auszug in Franz Messmer (Hrsg.), Kritiken zu den Uraufführungen der Bühnenwerke von Richard Strauss (= Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft, Bd. 11), Pfaffenhofen: Ludwig, 1989, S. 50–51.

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42680 (Version 2019‑05‑27).

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