Schnoor, Hans
»Karl Böhm als Sinfoniedirigent. Beginn der Konzerte im Opernhaus«
in: Dresdner Anzeiger, Samstag, 7. Oktober 1933

relevant für die veröffentlichten Bände: III/5 Don Juan
Karl Böhm als Sinfoniedirigent
Beginn der Konzerte im Opernhaus

Es ist gekommen, wie es anders gar nicht denkbar war: Dresdens neuer Generalmusikdirektor hat sich auch als Konzertleiter mit jener autoritären Sicherheit durchgesetzt, die das Kennzeichen der wahren Führernatur ist. Er hat die Hörerschaft – ein volles Haus am Vormittag bei der Hauptprobe wie am Aufführungsabend selbst – erwärmt und hingerissen. Er hat sein Publikum mit einem herrlich gespielten Mozart zunächst auf die Höhe vergeistigten Genusses gestimmt. Dann hat er uns das Glück einer zauberhaft schönen Strauß-Darstellung geschenkt – die innere Linie, die seine Abwägung in einer solchen Vortragsfolge war gar nicht zu verkennen. Und endlich hat er der großen Klassik, über die sich alle Welt einig ist, mit Beethoven Ehre erwiesen.

In schweigendem Staunen möchte man vor einem Wunderwerk wie Mozarts D-Dur-Sinfonie (Köchelverzeichnis 385) stehenbleiben. Es muß lange her sein, daß diese Sinfonie hier gespielt worden ist, jedenfalls erinnert man sich ihrer Aufführung in den Opernhauskonzerten nicht. Sie ist ein jüngeres Seitenstück zur Haffnerserenade, die dann für Wien zum klassischen Konzertwerk nach dem Haydnschen Sinfonietypus abgeglättet wurde. Die Handschrift Mozarts zeigt eine sonderbare Unruhe, der seelische Grundklang ist voll schwergebändigter Erregung. Unter dem spiegelnd blanken Spiel konzertierender Instrumente – wie hinreißend trugen unsere Orchesterkünstler das Stück vor! – verbirgt sich ein Aufruhr der Elemente. Und wie blitzt der Humor hinein, freilich auch hier ein dämonischer Humor, unter dessen Einschlag sich die heiteren Stimmungen verflüchtigen. Mit Recht erhebt die Mozartforschung diese Sinfonie zur Höhe eines seelenkundlichen und lebensgeschichtlichen Dokuments: wir wissen, einmal, daß Mozart seine »neue Haffner-Symphonie« zur Zeit seines aufregenden Brautstandes, bald nach der »Entführung« geschrieben hat und daß ihm der Auftrag nicht eben bequem kam; wir wissen anderseits, oder fühlen es zumindest in aller Deutlichkeit, daß sozusagen wider Willen der ganze, große Mozart mit aller seelischen Unrast, aller inneren Not, allem Schwanken zwischen tragischen und heiteren Lebensstimmungen in die Hülle dieses »Gelegenheitswerks« eingeschlüpft ist.

In diesem Sinne erschloß sich die Sinfonie durch Böhms Auslegung: auch hier die spiegelnde Glätte der Form, auch hier der volle Ausdruck des gedankenschweren Inhalts, und was Form und Gehalt in vollkommener Einheit zusammenhielt: die Kraft einer musikalischen Phantasie. Technisch bewegte sich der Vortrag auf der Höhe kammermusikalischer Disziplin: was beispielsweise die Streicher leisteten, erschien selbst im Verhältnis zu der alten Dresdner Kapellkultur neuartig und verblüffend. Für den letzten Satz, der sich an »Entführungs«-Stimmung wie im Rausche sättigt, schrieb Mozart selber vor: »so geschwind als möglich«. Böhms »Geschwind« bedeutete ein feinstes, entmaterialisiertes Gleiten der Stimmen, ein geistiges Brio echtester Mozartlicher Art. Die Kapelle folgte seinem Wink mit virtuosem Einsatz aller Kräfte.

Es folgte der Don Juan von Strauß. Soll man ein neues Bekenntnis zu dem Werk und seinem Meister ablegen? Man wäre dazu versucht in Anbetracht einer Darstellung, die über Straußens Frühschöpfung ganz Neues aussagte. Ich kann mich keiner Aufführung erinnern, die so im Klange sichtig, in der Form geläutert, im Vortrag geadelt gewesen wäre. Gewiß, da gab es einen Don Juan der schillernden Farbe, des dionysischen Schwungs, der breiten Kraftfülle, mehr verfeinert oder mehr vergröbert, genial oder hausbacken (das letzte zumeist), mehr männlich oder mehr weiblich, mit oder ohne Phantasie. Es haften große, nicht überbietbare, unauslöschliche Eindrücke in einer nun schon sehr fernen Erinnerung. Doch diese Darbietung durch Böhm war eine Neugeburt, war Strauß-Renaissance in jedem Sinne, nicht zuletzt auch in dem Sinne, daß wir Strauß als nunmehr schon geschichtliche Inkarnation einer gewaltigen künstlerischen Phantasiemacht sahen. In klassischer Ausprägung trat uns Don Juan entgegen. In einem wundervoll unsentimentalen Schwärmen seiner »Themen«, das uns nicht wieder einmal an Herz und Nerv gerührt hätte, dabei alles durch ein geistiges Temperament vermittelt und zu durchdringender Formanschauung gesteigert. Da ist jeder Teil, jede Zeile der Tondichtung mit Phantasie durchfühlt und auf die klarste Formel des Ausdrucks gebracht – ein gelungener Versuch allergrößter Stilisierung etwa in dem Sinne, wie Böhms großer Lehrmeister Karl Muck in den Aufbau solcher Werke das Naturgesetz seiner Persönlichkeit hineinzutragen pflegt. Ein reinerer Ausdruck von Geistigkeit und noblem Menschentum, ein vollerer Adel des Herzens ist in Musik ausgedrückt nicht denkbar. Von dieser überwältigend starken Darstellung waren Ausführende und Hörende wie elektrisiert. Von hier aus eröffnet sich ein wahrhaft großer, befriedigender Ausblick auf die Zukunft unserer Dresdner Musikkultur.

Klar, nervig, übersichtlich baute sich am Schluß Beethovens Fünfte Sinfonie hin. Auch hier etwas von dem Klassizismus Muckscher Sinfoniedarstellung. Eine klangliche Finesse: die Überleitung zum Schlußsatz, das Tönen in der Tonlosigkeit gleichsam. Herrlich schreitet das Finale aus. Die Hörer spüren, daß dies der Führerschritt der Kraft und des guten Gewissens ist. Man gerät in Begeisterung. Man feiert den Dirigenten und die Kapelle. Denn man weiß: es kommen gute Zeiten für unsere Dresdner Oper.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b43919 (Version 2018‑01‑26).

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