Marsop, Paul
»Richard Strauß und die Programmmusik«
in: Allgemeine Zeitung, Jg. 93, Heft 63, München, Mittwoch, 4. März 1891, Morgenblatt, Rubrik »Feuilleton«, S. 1

relevant für die veröffentlichten Bände: III/5 Don Juan
Richard Strauß und die Programmmusik.

Das historische Feingefühl erwirbt man sich erst mit reiferen Jahren. Für die Jugend, welche die ästhetisch-kritische Betrachtung des Tonwerkes als kunstschädlich a limine abweist, verschwimmen lebendige Gegenwart und entwerthete Uebergangszeit ineinander: sie säen auf ausgesogenen Aeckern und errichten Luftschlösser auf Friedhöfen. Die Programmmusiker, welche die Todtenfeier, auf die an sich eine so bedeutsame Persönlichkeit wie Franz Liszt vollbegründeten Anspruch hatte, nachgerade etwas über Gebühr hinausziehen und die Componisten, welche gar im Anschluß an den Autor der »Bergsymphonie« fröhlich ins Unbestimmte hinein phantasiren, verschließen ihre Augen vor der Thatsache, daß das Schaffen des Weimarer Meisters bereits Vergangenheitsmusik ist. Die Geister, durch die Liszt sich inspiriren ließ: Lamartine, das Mundstück einer süßlich-faden Scheinreligiösität, und Victor Hugo, das geschwätzige Orakel einer sich in wohlklingendem Unsinn verlierenden Romantik, sind, eben weil sie nur Zeitgötter waren, längst entthront worden: mit ihnen mußte auch der noch nicht sonderlich erstarkte symphonische Ruhm Liszts zum Hades hinabsteigen. Was etwa an triebkräftigen Keimlingen im ungeklärten Formen- und Ideenwesen dieser Musik vorhanden war, ging in das »Kunstwerk der Zukunft« über – wie denn Richard Wagner auch andrerseits aus der mit ungleich größerer Genialität angelegten, aber dennoch auf Grundirrthümer gestellten Rechnung des Hector Berlioz den richtigen Schluß zog. Wer also heute als Orchesterpoet wieder auf die Instrumentalparaphrasen Liszts zurückgreift, der ist ein Rückschrittler, weil er die Nothwendigkeit der alle musikrevolutionären Strebungen dieses Jahrhunderts in sich vereinigenden und abklärenden Reform Wagners in Abrede stellt.

Es ist nicht erfreulich, daß ein anschlägiger, feiner Kopf und feuriger Künstler wie Richard Strauß immer noch auf solch’ überwundenem Standpunkt verharrt: doch finden sich in seiner neuesten Tondichtung: »Tod und Verklärung«, Anzeichen, welche darauf schließen lassen, daß er den Kreislauf geistreicher Anempfindungen verschlossener Sturm- und Drangepochen bald vollendet haben, daß er demnächst nach längerer Zeit wieder einen Schritt vorwärts, und zwar zum musikalischen Drama hin, thun werde. Strauß ist keiner von den Modernen, an die man die Aufforderung zu richten hat, sich mit dem Erbe der Classicität, dessen sich Viele leichtherzig entäußern zu können glauben, erst einmal recht vertraut zu machen. Er hat seinem Talent die mozartische Erziehung und hinterher die mendelssohnische Politur gegeben; er war bereits an der ihn sorgsam leitenden Hand Bülows bis zu Johannes Brahms, welcher der symphonischen Romantik wieder eine männliche Seele einhauchte, vorgedrungen, als er unvermuthet, nachdem er die erste Gährungsperiode nahezu überwunden hatte, in eine zweite verfiel und in wunderlichen Zickzacksprüngen über die programmatischen Gefilde hinstürmte. Jetzt steht er, der mit kleiner Philistermusik begann, dann mit zwanzig Jahren ein durchaus reifes, formell trefflich abgerundetes großes Werk, seine F-moll-Symphonie schrieb und sich hierauf nachträglich in die Bacchanalien Harolds und das Dissonanzengetümmel der »Hunnenschlacht« stürzte, vor der Pforte des Musikdramas. In seinem »Don Juan« blitzen bereits Bayreuther Lichter auf; mit »Tod und Verklärung« hat Strauß unzweideutig eine Anweisung auf einen Bühnenerfolg gegeben, welche er hoffentlich seinerzeit einlösen wird. Schon der poetische Vorwurf der letztgenannten Composition ist ein halbwegs dramatischer: ein Künstlertitan liegt fiebergeschüttelt auf dem Sterbebette (die Decoration gemalt von Schopenhauer) und sieht in der Agonie die Bilder seiner Lebensbahn, von den Spielen des Kindes an bis zu den harten Drangsalen des mit dem Unverstand einer kleinlichen, neidischen Mitwelt ringenden Mannes vor seinem geistigen Auge vorüberschweben; das Motiv der »Welterlösung«, in welchem das Höchste seines Strebens musikalisch symbolisiert sein soll, kann sich in diesem qualvollen Kampfe nicht zur vollen plastischen Erscheinungsform hindurcharbeiten und klingt erst der erlösten Seele aus Himmelshöhen harmonisch austönend entgegen. Man sieht: obwohl der Componist die Fühlung mit den Liszt’schen »Préludes« noch einigermaßen bewahrt, wird er doch ungleich mehr zu den Monologen des sterbenden Tristan hingezogen. Insofern sein Werk von einer beachtenswerthen Wandlung im Entwicklungsgange eines begabten Künstlers Kunde gibt, wird man es in all seinen Einzelheiten mit Antheilnahmen verfolgen; ein einheitlicher Eindruck darf jedoch von dem Kreuzungsproduct zweier gänzlich an Werth und Charakter verschiedenen Kunstgattungen, deren eine mit dem Concertsaal gar nichts und deren andere mit der Musik überhaupt nur sehr bedingt etwas zu schaffen hat, nicht erwartet werden. So wenig wie sein Vorbild Liszt vermag uns Strauß davon zu überzeugen, daß die Instrumentalmusik einen bestimmten Lebensvorgang abzuschildern im Stande sei: hüben bleiben die Töne Töne – drüben die Begriffe Begriffe. Wir müssen uns daran halten, daß die Partitur zu »Tod und Verklärung« keinen nach irgendwelchem alten oder neuen Princip gefügten festen, durch den musikalischen Aufbau an sich verständlichen Organismus darstellt, sondern daß wir nur ein rhapsodisches Nacheinander von Steigerungen und Abschwellungen vor uns halten. Und es kann uns um so weniger Befriedigung gewähren, daß in jenem ekstatischen Auf- und Niederwogen verworrener Gefühle sich auch die wagnerische Orchesterbehandlung wiederspiegelt, als wir uns daran erinnern, wie oft und eindringlich der Schöpfer des »Tristan« in Wort und Schrift davor gewarnt hat, starke Würzen des Harmonischen und besondere Kühnheiten der Stimmführung, die im Bereiche des musikalischen Dramas allenfalls mit Maß und Besonnenheit anzuwenden seien, im Gebiete der rein symphonischen Musik zu verwerthen. Das Tonstück, welches in keiner Beziehung zur Bühne stände, trage seine eigenen Gesetze in sich! Dazu ist noch in Betracht zu ziehen, daß Strauß die Richard Wagner eigenthümliche geniale Technik – wir möchten sie den ideellen Contrapunkt der Leitmotive nennen – denn doch noch nicht mit voller Zufriedenheit handhabt. Die von ihm verwendeten Themen tragen ein mehr individuelles Gepräge, als diejenigen, welche in seiner Phantasie »Aus Italien« und in seinem »Don Juan« auftreten; wahrhaft packende Originalität ist indessen beispielsweise weder der zuerst von der Oboe gebrachten und alsbald von der Solovioline und Flöte weitergeführten zarten Melodie, noch dem Verklärungsmotiv nachzurühmen.

Möchte es geschehen, daß die schöne, starke Empfindungswärme, welche dem Dirigenten Strauß längst zu eigen ist, auch im Inneren des Componisten frei ausgelöst werde, wenn er sich anschickt, die große Leidenschaft der tragischen Scene zu entfesseln! Erfreulich wäre es für ihn – und für die Kunst. Die Zahl der ernstlich sich mühenden, namenhafteren Talente unter der jüngeren Componistengeneration ist eine so geringe, daß man auf den Werdelauf eines jeden derselben mit erhöhter Spannung blickt.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b44025 (Version 2018‑01‑26).

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