Lessmann, Otto
[ohne Titel]
in: Allgemeine Musik-Zeitung. Wochenschrift für die Reform des Musiklebens der Gegenwart, Jg. 17, Heft 6, Freitag, 7. Februar 1890, Rubrik »Aus dem Konzertsaal«, S. 67–69

relevant für die veröffentlichten Bände: III/5 Don Juan, III/6 Tod und Verklärung
[Herr Joachim, de Ahna, Wirth und Hausmann. Erk’scher Männergesangsverein. Dr. Hans v. Bülwo. Kammersänger Benno Koebke. Philipp Rüfer.]

An ihrem zweiten Quartettabend (2. Zyklus) brachten die Herren Joachim, de Ahna, Wirth und Hausmann zwischen Mozart’s D-moll- und Beethoven’s Es-dur-Quartett op. 127 ein neues Werk dieser Gattung von H. von Herzogenberg zur ersten Aufführung. Nach den beiden lebensfrohen letzten Sätzen des Mozart’schen Werkes hatte das F-moll-Quartett von Herzogenberg keinen sehr glücklichen Platz, da sein gesamter Gedankengehalt mit seiner melancholischen, zum Theil dichteren Grundstimmung viel zu weiblichen wirkt, um lange zu fesseln. Durch schönen Klang zeichnet sich das Andante besonders aus: im dritten und letzten Satze, einem Presto, wird beim Aufschwung zu männlich kräftigerer Haltung genommen, derselbe hält indessen nicht lange genug vor, um den Gesamteindruck beeinflussen zu können. Dass das Werk in seiner ganzen Haltung und sorgfältigen Ausarbeitung die Hand eines Tüchtigen, vornehmen Musikers verräth, bedarf wohl kaum der Erwähnung.

Im Konzerthause gab am 29. Januar der unter Leitung des Herrn Theodor Hauptstein stehende Erksche Männergesangsverein ein Konzert, in welchem abwechselnd Kunst- und Volkslieder zum Vortrag gelangten. Der Chor befleissigt sich im Vortrag einer wohltuenden Natürlichkeit, spricht den Text gut und klingt im Ganzen auch gut. Die Intonation war nicht immer zuverlässig.

An demselben Abend spielte Herr Dr. Hans von Bülow in der Singakademie abermals die letzten fünf Sonaten von Beethoven. Viele der Zuhörer werden sich sicherlich des ungeheuren Eindrucks erinnern, den der unvergleichliche Vortrag dieser Werke vor einigen Jahren hinterließ, da Herr von Bülow in technischer und geistiger Beziehung das vollkommenste leistete, was man jede von ihnen gehört hatte und die künstlerische That, welche Herr von Bülow damals vollbrachte, bleibt für alle Zeiten als eine der gewaltigsten in die Geschichte des Klaviers Spiels eingezeichnet. Um so weniger darf man Bedenken tragen auszusprechen, dass die diesmalige Darbietung der fünf Sonaten nicht im Entferntesten an die früheren heranreichte. Herr von Bülow war von Anfang an unruhig und nervös, und dieser Zustand raubte ihm die sonst sieghafte Herrschaft über seine Finger, besonders auffallend namentlich bei den ersten beiden Sonaten, wo die technische Klarheit, die rhythmische Schärfe und die geistige Freiheit, welche sonst das Spiel des Herrn von Bülow in so hohem Maße auszeichnen, fast von Anfang bis zu Ende zu vermissen waren. Etwas höher Stand der Vortrag der drei folgenden Werke, am höchsten der der As-dur-Sonate; hier war auch am wenigsten die schweigende Härte des Anschlages zu bemerken, welche in den anderen Sonaten stellenweise die Klangschönheit ganz und gar zum Opfer fiel. Es ist nur anzunehmen, dass eine starke in Indisposition Herrn von Bülow gefangen genommen hatte, da kein Grund zu der Vermuthung vorhanden ist, dass er als Pianist zu schnell von der bisher angenommenen Höhe herabgestiegen sei. Das Berliner Publikum scheint sich indessen über das künstlerische mehr oder weniger in der diesmaligen pianistischen Leistung des Herrn von Bülow nicht gekümmert zu haben, denn es spendeten Beifall in derselben begeisterten Weise, wie sonst und es gab damit dem Künstler Recht, der kürzlich a. a. O. die eigene Urteilskraft der Berliner in künstlerischen Dingen derjenigen der Hamburger nachgestellt hat. Herr von Bülow, der gegen sich sicherlich ebenso gerecht sein wird, wie er gegen Andere zuweilen ungerecht ist, mag sich, im klaren Bewusstsein über das Unzulängliche seine diesmalige Leistung, innerlich genug belustigt haben über die begeisterte Urtheilslosigkeit seiner Zuhörer, und die urtheilslose Begeisterung der Kritik, die ihn lobt, als ob er niemals besser gespielt hätte.

Wie anderswo wirkte der Dirigent von Bülow am Freitag, den 31. Januar im VII. Philharmonischen Konzerte! Zur Aufführung kamen Cherubini’s Ouverture zum »Wasserträger, deren empfindungstiefe Einleitung von dem Orchester mit besonderer Wärme gespielt wurde, ferner eine neue Tondichtung »Don Juan« von Richard Strauss, die Es-dur-Sinfonie No. 3 von Haydn und das »Lohengrin«-Vorspiel. Naturgemäss zog das neue Werk von Strauss zunächst das Interesse der Zuhörer auf sich. Richard Strauss ist in Berlin kein Unbekannter, wir haber [sic] hier seine Orchester-Serenade, seine F-moll-Sinfonie, seine Italienische Fantasie und sein Klavierquartett gehört, und diese vier Werke haben die Aufmerksamkeit aller Musikverständigen auf den noch nicht 26jährigen, früher Münchener, jetzt Weimarischen Hofkapellmeister gelenkt als einen der auserwähltesten jüngeren Musiker unserer Zeit, in dessen Kunstschaffen neben einem für seine Jugend erstaunlichen können eine üppige blühende Fantasie und echte Leidenschaft sich zu erkennen geben. Die Leser der »Allgem. Musikztg.« werden sich erinnern, dass ich vor Jahren schon Richard Strauss neben Felix Weingartner und Eugen d’Albert als die vermuthlichen einstigen Hauptvertreter des musikalischen Jung-Deutschlands bezeichnet habe; in den Schöpfungen dieser Trias spielte sich das große künstlerische Vermächtnis der führenden Meister der Neuzeit so völlig als geistiges Eigenthum der Jünger wieder, dass von einer bloßen Nachahmung nicht mehr die Rede sein kann, sondern dass man in diessen [sic] Erscheinungen die ersten reifen Früchte erkennen darf, welche auf dem von dem Genie der großen Vorgänger befruchteten Boden gewonnen worden sind. D’Albert hält sich am meisten den alten geheiligten Kunstformen zugewandt. Rich. Strauss hat es von Haus aus auch gethan, allein schon denen der Sinfonie und in der Italienischen Fantasie bemerkt man, die dieser Feuerkopf gegen die ihm zu engen Schranken der überlieferten Formen rennt, die er in seinem »Don Juan« denn auch übersprungen hat, um sich aus dem politischen Vorwurf heraus seine »Regeln« selbst zu stellen. Weingartner, der geborene Dramatiker unter den drei genannten Künstlern, steht jetzt kaum weiter links in seiner Kunstanschauung als Strauss in seinem neuesten Werke, das mir einen tiefen Eindruck hinterlassen hat. Der Tondichtung liegen einige Strophen aus Lenau’s »Don Juan« zu Grunde, in denen mit glühenden Farben der Zauber der Frauenliebe geschildert wird, unter dem der Dichter, »so lange der Jugend Feuerpulse fliegen« vom Genuss zur Begierde getrieben wird. »bis der Sturm der Leidenschaft vertobt, die Liebeskraft verzehrt« ist und »die Welt ihn plötzlich wüst und umnachtet« erscheint. Mit der Empfindungskraft und der Fantasie eines echten Dichters hat Rich. Strauss den poetischen Inhalt der Verse in Töne übersetzt und zwar in eine Tonsprache, welche direkt von Wagner’s »Tristan« abstammt, ohne dass unmittelbare Anklänge auf dieses Werk hindeuten. Es ist der Geist Wagner’s, den Rich. Strauss aus dem »Tristan« und den späteren Werken in sich aufgesogen hat und aus dem sein »Don Juan« geboren worden ist. Die polyphone individuelle Behandlung des Orchesters und der Reichthum an eigenartigen Klangfarben sind ebenso bewundernswerth wie die ausdrucksvolle Kraft der musikalischen Gedanken und die in ihnen sich äussernde Gluth der Leidenschaft.

Die Kritik hat dem Komponisten den Vorwurf gemacht, sein Werk sei formlos. Ja, was heißt denn »Form« in der Musik? Wagner giebt die Erklärung dafür, in dem er die Melodie als die einzige berechtigte Form für die Musik bezeichnet und diese Form verändert sich nach dem politischen Inhalt, den die Musik zum Ausdruck bringen will. Um den poetischen Inhalt der Lenau’schen Dichtung wiederzugeben, hat Strauss sich seine Form selbst schaffen müssen, die sich im Hinblick auf die Idee nicht minder logisch entwickelt, als ein Sinfoniesatz. Man schilt auf die Programmmusik! Auf was hat man nicht gescholten, dass sich im Gegensatz zu Althergebrachtem befand! Die sinfonische Form, in welcher Beethoven das höchste geschaffen hat, so Grosses, dass alle Nach-Beethoven’schen Sinfoniker nur Epigonen von ihm sind, war auch nicht von Haus aus fertig, sondern das Ergebnis einer langen Entwicklungsthätigkeit der Komponisten, – man vergleiche nur eine Haydn’sche Sinfonie mit Beethoven’s »Neunter« – hat Beethoven darum Unrecht, dass er keine Sinfonien wie Haydn komponierte? Er gab der Instrumentalmusik einen dichterischen Inhalt, und musste sich dafür die überkommenen Formen umschaffen, und seine letzten Werke, die IX. Sinfonie, die Missa solemnis, die letzten Sonaten und Quartette sind lebendige Zeugnisse für das Missverhältnis, dass zwischen dem gewaltigen Geistesflug Beethoven’s und der überlieferten Formalistik bestand. Darum sind diese Werke die stolzesten Marksteine für den Abschluss einer ganzen Epoche in der Musikgeschichte, und wer nicht nur im Gefolge Beethoven’s einhergehen wollte, musste Neues schaffen, neue Formen finden. Dass haben weder Schumann, noch Mendelssohn und Brahms gethan, sondern Liszt, indem er die Sinfonische Dichtung schuf. Mag man die musikalische Potenz des Komponisten Liszt noch so geringe anschlagen, seine der Musikgeschichte angehörende grosse That ist und bleibt aber der Hinweis auf das neue Ziel, welches die Instrumentalkomponisten unserer und eine kommenden Zeit sich zu stecken haben. Und Richard Strauss hat diesen Hinweis verstanden. Was Liszt’s grösserer Kunstgenosse Richard Wagner der Kunst gewonnen hat, gehört ihm in demselben Sinne, in dem Wagner selbst sich Schüler von Beethoven nennen konnte, und er ist im Rechte, wenn er sich als Kind seiner Zeit fühlt und an seinem Theil mit arbeitet an der Verwertung des Wagner’schen Vermächtnisses für die reine Instrumentalmusik, mögen die Bequemlichkeit oder der akademische Zopf noch so laut ihre billigen Witzeleien über die Programmmusik auf den Markt werfen. Es ist einmal so hergebracht, dass die Aesthetik der lebendig schaffenden Kunst nachhinkt und Wehe der Kunst, wenn das Genie das göttliche Recht, ihr neue Gesetze zu geben, an den tüftelnden Verstand verlieren sollte.

Es geht freilich in der Strauss’schen Partitur nicht so gemächlich her, wie in eine Haydn’schen Sinfonie, allein das spricht weder gegen das eine noch gegen das andere Werk. Dass mir, trotzdem oder vielleicht weil ich das Werk nur zwei Mal gehört habe, in der zweiten Hälfte desselben die Fantasie des Komponisten ein wenig in die Breite zu gehen scheint,* dass auch für meinen Tonempfinden im Orchester einige allzu geräuschvolle Klangfarben ein wenig gemildert hätten aufgetragen werden können, will ich nicht verschweigen, nichtsdestoweniger nehme ich die gesunde und eigenartige schöpferische Kraft, die sich in dem Werke bethätigt, so wie sie ist und freue mich ihrer ab mit jenen hohen Grad von Bewunderung, den das Genie für sich fordern darf. Gespielt wurde die überaus schwierige Tondichtung unter Herren von Bülow’s Leitung mit erstaunlicher Virtuosität und die Aufnahme beim Publikum war eine ausserordentlich warme. Das Orchester hatte überhaupt seinen guten Tag, denn auch die köstliche, Humorvolle Haydn’sche Sinfonie mit ihrem mancherlei kleinen Orchesterwitzen vornehmlich aber das Lohengrin-Vorspiel, welches Herr von Bülow in wahrhaft idealer Vollendung zu Gehör brachte, waren Leistungen, wie ich sie seit langem nicht gehört haben. Von der Sinfonie musste der letzte Satz wiederholt werden. Als Solistin war Frau Teresa Carreno für den erkrankten Pianisten Herrn Paderweski mit dem Grieg’schen A-moll-Konzert und der Weber-Liszt-schen E-dur-Polacca eingetreten, und erntete mit ihrem genialen Klavierspiel stürmischen Beifall. Meine früher geäußerte Vermuthung scheint sich übrigens zu bestätigen: Frau Carreno ist von Amerika her grosse Konzertsäle gewöhnt und ihr Spiel konnte daher in dem kleinen Saal der Singakademie zu gewaltsamen erscheinen. In dem größeren Saale der Philharmonie verschwanden die Kraftübertreibungen als solche und es blieb nur eine erstaunliche Kraft, welche, ohne dass Schönheitsmass zu überschreiten, den herrlichen Bechstein-Flügel siegreich neben dem Orchester zu Geltung brachten.

Der Kammersänger Benno Koebke hat am 3. d. M. in der Singakademie seinen zweiten Liederabend gegeben, an welchen er mit Beethoven’s »Adelaide« und zwei Liedern von Brahms begann, denen dann drei Liedern von Liszt, zwei Lieder von Rotoli und endlich viele Lieder von Lessmann, Evers, Gade und Steinbach folgten. Wieder erwies sich der Konzertgeber als ein musikalisch und gesanglich trefflich gebildeter und mit sympathischer Tenor-Stimme begabter Sänger, der in der weichen Lyrik eines des starken Eindrucks stets sicher sein darf, während in leidenschaftlich erregten Liedern etwas mehr Feuer und Temperament zu wünschen wäre. Frl. Felicia Tuczek, welche die Begleitung der Lieder übernommen hatte, spielte die Reinecke’schen Variationen über ein Thema von Bach, und einige kleinere Stücke von Field, Felicia Tuczek, Moszkowski und Brassin mit Geschmack und Verständniss.

An demselben Abend führte Philipp Rüfer im Konzerthause seine Sinfonie und seine Rubens-Ouverture auf, zwei Werke, die hier nicht mehr unbekannt sind, die aber ihres frischen, flotten Zuges und ihres Empfindungsgehaltes wegen wohl verdienten, öfter wiederholt zu werden, als es der Fall ist.

*Ich kann, nachdem Herr Strauss persönlich sein Werk vier Tage später in einem populären Philharmonischen Konzerte geleitet und dabei die Zeitmasse unendlich viel freier gehandelt hat, dieses Urteil zurücknehmen. Das aus dem leidenschaftlichen Inhalt der Komposition sich ergebende tempo rubato, das stärkere Feuer der Darstellung, das der Komponist selbst seinem Werk zu Theil werden lassen konnte, hat alle Längen beseitigt, wie denn überhaupt das Tonstück unter der schwungvollen Leitung des Komponisten sehr viel klarer wurde. [Originalanmerkung].
verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Stefan Schenk

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b44030 (Version 2022‑11‑18).