Kalbeck, Max
»Elektra«
in: Neues Wiener Tagblatt. Demokratisches Organ, Jg. 43, Heft 86, Samstag, 27. März 1909, Rubrik »Feuilleton«, S. 1–4

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
»Elektra.«

Mitten in der kreisrunden Arena des antiken Theaters erhob sich die den Göttern geweihte Thymele. Zentrum und Ausgangspunkt der Tragödie, die allmählich von der Orchestra, dem Tanzplatze des lyrischen Chores, zur dramatischen Skene emporgestiegen war, wies der Opferaltar auf die Nähe der Gottheit hin, der zu Ehren die Spiele veranstaltet wurden. Aus dem ambrosischen Gewölke seines Räucherwerkes konnte der Gott jeden Augenblick hervortreten. Dem opfernden Chor aber, der den Altar umwandelte, ehe er sich zu beiden Seiten desselben aufstellte, lag es ob, als idealer, in die Aktion eingreifender Zuschauer, auch in der Menge der realen Zuschauer das heilige Feuer der Begeisterung immer wieder anzuschüren. Das lyrische Element, die gestaltenbildende und formgebende Seele des griechischen Dramas, blieb bis in die Zeiten des Verfalles sein integrierender Bestandteil. Ohne dieses, das Geistige mit dem Sinnlichen, das Ewige mit dem Zeitlichen, die Götter mit den Menschen vereinigende Bindemittel ist das klassische Drama überhaupt nicht zu denken. An der Thymele, als dem heimischen Herd seines Opferfeuers, scheiterten den [sic] auch alle Wiederbelebungs- und Modernisierungsversuche der griechischen Tragödie, von wem immer sie ausgehen mochten.

Wir wollen Hugo v. Hofmannsthal die Gerechtigkeit widerfahren lassen oder auch nur die Ehre erweisen – je nachdem –, ihn zu jenen unglücklichen Erweckern des Sophokles zu rechnen, die sich einbilden, sie könnten durch allerhand Praktiken und Kniffe den antiken Dichter für die moderne Bühne gewinnen. Hofmannsthal strich den Chor, warf den Altar um und behielt von der »Elektra« seines großen Vordichters nur Fabel und Szenarium bei, die er sich nicht getraute, besser machen zu können. Es wird ihm dabei kaum entgangen sein, daß die grimmige, unversöhnliche Rachsucht des mykenischen Königskindes für das zahme Publikum unsrer Zeit etwas Abstoßendes, nahezu Unfaßbares hat. Ohne den Zusammenhang mit der Götter- und Heldensage, den religiösen und sittlichen Anschauungen, den Rechts- und Schicksalsbegriffen, kurz, ohne das Hellenentum des griechischen Volkes macht Elektra wirklich keine gute Figur. Was also tun, um das Interesse des Gegenwartsmenschen für sie zu erregen, sie dem »modernen Bewußtsein« näher zu bringen? Wenn Hofmannsthal der moderne Goethe wäre, für den ihn die begeisterten Verehrer seiner naturlosen, kostbaren Muse ausgerufen haben, so hätte er mit der »Elektra« des Sophokles etwas Aehnliches versucht, wie Goethe mit der »Iphigenie« des Euripides, und wir hätten ihm dann vielleicht die Aufführung eines vom Iphigeniendichter liegen gelassenen Planes zu verdanken: die versöhnte und entsühnte Elektra im Anschluß einer »Iphigenie in Delphi«. Solchen Ergebnissen eines zweitausendjährigen sittlichen und künstlerischen Entwicklungsprozesses, wie ihn Goethe in dem göttlichen Symbol seiner »Iphigenie« dargestellt hat, können freilich unsre Modernen keinen Geschmack mehr abgewinnen.

Goethe errichtete den Altar der Gottheit im reinen Herzen seiner Iphigenie und ließ die hohen Gedanken seiner Dichterseele sich in ihrem edlen Haupte als verjüngter tragischer Chor bewegen. Hofmannsthal ging, ein durchaus verkehrter Goethe, dreitausend Jahre, bis in die nebelgraue Vorwelt zurück und versetzte die zur Bestie entmenschte Elektra in ein unbekanntes, von orientalischen Mischvölkern bewohntes Mykenä, wo dunkle Dämonen die entarteten oder undisziplinierten Sinne zuchtloser Halbtiere beherrschen. Seit Nietzsche, der selbst ein armer Hysteriker war, die Fabel von der Hysterie der Griechen in Umlauf gesetzt hat, von welcher die Denkmäler ihrer Kunst- [sic] und Literatur dem objektiven Forscher nichts erzählen, gehört es in gewissen Kreisen zum guten Ton, sich diesen Pseudohellenen verwandt zu fühlen und die Träume ihrer Dichter aus deren Eingeweiden zu erklären. Dem Unreinen ist alles unrein; der Hysterische wittert überall Hysterie und fühlt sich glücklich, seinen anormalen Zustand bei andern zu entdecken und auf andre zu übertragen. So bereiten sich geistige Epidemien vor, welche ganze Geschlechter zerrütten und verderben können. In der deutschen Literatur ist seit etwa zwanzig Jahren, parallel mit den verwandten Künsten, eine Richtung aufgekommen, die wir Abdominalpoesie nennen möchten. Bei ihren Vertretern fängt der Mensch eigentlich erst unterhalb des Nabels an. Hofmannsthals »Elektra« ist ein Hauptwerk dieser Gattung. In seinem Königspalaste von [2] Mykenä wird nur»gekreißt oder gemordet«. Blut! ist das dritte Wort der Heldin, die zu einer verwahrlosten, von Schmutz starrenden, in zerfetzte Lumpen gehüllten Sklavin degradiert worden ist. Blut! bleibt ihr Gedanke bei Tag und Nacht, ihr unstillbares Sehnen und Verlangen: das allgemeine Blut von Pferden und Hunden, Männern und Frauen, und nicht zu vergessen, besonders das ihrer verhaßten Mutter, die dem ehebrecherischen Geliebten beim Morde des Gatten geholfen hat. Selbst der Gedanke der Blutrache geht in dem rauchenden roten Meere unter, das ihr zerrüttetes Hirn durchwogt. Die Rache scheint ihr nur noch das Mittel zum Zweck eines ungeheuren Blutbades. Von hundert Kehlen soll es auf das Grab des Vaters strömen, wie aus umgeworfenen Krügen den gebundenen Mördern entfließen; auch die nackten Leiber ihrer Helfer werden wie blutgefüllte Marmorkrüge sein, und in einem Schwall, in einem geschwollenen Bach wird ihres Lebens Leben aus ihnen stürzen. »Und wir,« heißt es wörtlich weiter, »dein Blut, dein Sohn Orest und deine Töchter, wir drei, wenn alles dies vollbracht und Purpurgezelte aufgerichtet sind, vom Dunst des Blutes, den die Sonne an sich zieht, dann tanzen wir, dein Blut, rings um dein Grab: und über Leichen hin werd’ ich das Knie hochheben Schritt für Schritt, und die mich werden so tanzen sehen, die [werden] sagen: Einem großen König wird hier ein großes Prunkfest angestellt von seinem Fleisch und Blut, und glücklich ist, wer Kinder hat, die um sein hohes Grab so königliche Siegestänze tanzen!«

In diesem Eröffnungsprolog ist die Disposition, das Programm der Tragödie enthalten, wie sie dann pünktlich durchgeführt werden. Zwangsvorstellungen, lüsterne Träume von Zeugen und Gebären, Bilder und Gleichnisse, aus dem Bauche hervorgeholt, gehen nebenher und vervollständigen die Merkmale jener Abdominalpoesie. Elektra ist das richtige Kind ihrer ebenso mordsüchtigen wie geilen Mutter; der Blutrausch benebelt ihre Geschlechtslust, um diese dann als ihr Erreger desto deutlicher ans Licht zu bringen, wobei sie sich allerdings in ihrem Gegenstande vergreift. Dem Dichter Hofmannsthal blieb es vorbehalten, das rührende Verhältnis zwischen Elektra und Chrysothemis, ein Seitenstück zu Antigone und Ismene, zu verdächtigen und der Schwesterliebe einen geschlechtlichen Beweggrund unterzuschieben, wie er anderseits [sic] die holde Natürlichkeit der um ihre verlorne Jugend klagenden Chrysothemis zu Nymphomanie umwertete. Aber eine Szene, eine gewaltige Szene ist in der »Elektra« Hofmannsthals enthalten, und um ihretwillen sei dem von einem unseligen Wahne irregeleiteten Dichter manches verziehen! Jenes furchtbaren Zusammenstoßes von Mutter und Tochter, bei welchem Elektra, wie Hamlet, glühende Dolche redet, so daß Klytämnestra tausend Tode für einen erleidet, brauchte sich kein großer Dramatiker zu schämen.

Umsonst erhob dieser steile Gipfel der Dichtung warnend sein Haupt – Richard Strauß ließ sich nicht abschrecken, ihn zu nehmen. Was ihn zur Komposition des Parallelstückes der Wildeschen »Salome« so mächtig anlockte, daß er als sein eigener Nachahmer das Odium der Selbstwiederholung auf sich lud, entsprang wohl dem brennenden Ehrgeiz, die oft angestrebte Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, die auch seinem Vorgänger Wagner nicht gelungen war, neuerdings zu bewerkstelligen. Daß die Wagnerschen Werke bei einer Reform der Oper stehen blieben, welche die Irrtümer des alten Stils durch neue ablöst, mochte seinem Scharfsinn nicht entgangen sein. Eigens für die Bedürfnisse des Komponisten angefertigte Gesangsunterlagen, also im Grunde genommen Operntexte, und als solche mit vielen Gebrechen ihrer Art behaftet, gingen die Dichtungen Wagners dem Problem des Dramas, das auf der anschaulichen Entfaltung spekulativer, mit dem Gedankenhaften, Historischen und Logischen verknüpfter Vorgänge beruht, tunlichst aus dem Wege; wo sie dies nicht konnten oder wollten, wurden sie unmusikalisch. In Hofmannsthals »Elektra« nun bot sich dem Komponisten der »Salome« ein auf der Antike fußendes, von dem größten Tragiker der Welt gleichsam empfohlenes Sujet dar, das eine anscheinend vollkommene, in literarischen Kreisen wohlakkreditierte Tragödie vorstellte, und diese Tragödie hatte, dank ihren Beziehungen zum klassischen Altertum, den nicht zu unterschätzenden Vorteil, einer dem symphonischen Dichter Strauß bereits geläufigen einaktigen Form adäquat zu sein. Da Hofmannsthal keinen Einspruch erhob, daß der Musiker die Unzulänglichkeit, um nicht zu sagen Unzurechnungsfähigkeit über ihn und sein Drama aussprach, sondern seinem erfolgreichen Nacharbeiter mit gefälligen kleinen Aenderungen bereitwillig entgegenkam, so konnte das Wunderwerk im stillen zur Reife gedeihen.

Das Erste, was Strauß tat, war, daß er den von Hofmannsthal umgestürzten Opferaltar wieder aufrichtete, und zwar dort, wo es [sic] jetzt hingehörte: in die zum Orchester umgewandelte Orchestra. Er selbst in seiner Eigenschaft als Artifex maximus und Allerweltskapellmeister setzte sich davor fest und führte den hundertstimmigen Chor der Instrumente zum Heile der Menschen und zur Ehre der Götter in die dramatische Arena. Hatte schon Wagner, nach Berlioz, die Ausdrucksfähigkeit des Orchesters so sehr gesteigert, daß er es das Organ des Unaussprechlichen nennen durfte, wobei er gewiß nicht bloß an die stumme Materie dachte, so erweiterte Strauß dieses Ausdrucksvermögen bis ins Unberechenbare, nicht mehr zu Differenzierende. Er getraut sich alles in Tönen zu sagen, was man von ihm verlangt; ein [3] konkretes Stück Holz oder Metall wie der abstrakteste Begriff findet bei ihm seinen Ton, sein Tönchen. Wer aber dem Teufel der Materie den kleinen Finger reicht, dem nimmt er die ganze Hand. Das Straußsche Orchester bezahlt seine klangliche Ueberlegenheit über das Wagnersche mit einer noch größeren Unfähigkeit, dramatisch zu gestalten. Die in der Armut ihrer Erfindung geradezu rührenden Leitmotive des Werkes verhalten sich zu denen Wagners wie Staub zum Kristall. Allerdings sind diese molekularen Bestandteile werdender oder vergangener Melodien beweglicher und fähiger, allerlei Kombinationen und Verbindungen einzugehen, als die massiven Blöcke und Trümmer des älteren Musikdramas, die sich schwerfällig in dem harmonischen Geschiebe der begleitenden Musik hin- und herwälzen. Aber die buntfarbigen, funkelnden und glitzernden Körperchen überziehen bald alles mit demselben, kaum noch durchsichtigen Schmelz, der nur durch fortwährendes Schütteln vor dem Erstarren bewahrt wird. Eine mehr als äußerliche Charakteristik ist damit kaum zu erreichen, und ihr Email cloisonné steht leblosen Gegenständen besser an als leidenschaftatmenden Menschen. Dabei sind die fünfundvierzig, meist aus wenigen Noten bestehenden Motive, welche der authentische Leitfaden aufzählt und an zweihundertzweiundsechzig Partiturstellen nachweist, recht sonderbare Schwärmer. Sie wünschen nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, wie die Fanfaren der »Nibelungen«-Musik, und möchten doch immer und überall bemerkt werden. Obendrein will es das Unglück, daß manche von ihnen von dort oder anderswo herstammen, so gern sie ihre Verwandtschaft ableugnen möchten. Strauß ist oft geriebener Wagner, manchmal zerstoßener Brahms, zuletzt sogar pulverisierter Meyerbeer und nur sehr selten einmal Strauß. Darüber schreiben die Herren Röse und Prüwer nichts in ihrem Musikführer. Sie haben ihm eine Tabelle beigegeben auf einem Bogen, der sich herausfalten läßt. Da stehen die niedlichen dramatischen Beweggründe der Tragödie alle verzeichnet, und man kann sich »Die Beilhiebe« und »Das Königliche«, »Das ewige Gemorde und Glitschen im Blute«, »Die schöne und die garstige Tochter des Agamemnon«, das fröhliche und traurige Schweinchen, einprägen, ehe man an die heilige Thymele der »Elektra« herangeht. Aber man wird leider nur zu bald die niederschlagende Wahrnehmung machen, daß der von Strauß eingeführte ausdrucksvolle, sinneberückende Chor der Instrumente, der dem Zuhörer über so vieles weghilft, seinem Zwecke nicht entspricht. Das Wesen des Menschen läßt sich nicht auf eine Formel bringen, der Logos nicht als Logarithmus gebrauchen, die Kunst ist keine Lehre von Verhältniszahlen, mit denen man rechnet. Aus dem »idealischen Zuschauer« A. W. v. Schlegels ist ein übergewissenhafter Beobachter an der Spree oder Isar geworden. Er bemerkt alles, worauf es nicht ankommt; das Wesentliche übersieht er oder will es nicht sehen, weil er nichts mit ihm anfangen kann.

Den tragischen Chor zu ersetzen ist auch das herrliche Straußsche Orchester, das die schwierigsten Aufgaben des epischen, oder sagen wir lieber des beschreibenden Musikers mit allen Mitteln einer wählerischen Harmonik, Rhythmik und Dynamik spielend löst, nicht geeignet und würde es selbst dann nicht sein, wenn sich der Komponist zu einem andern Stil entschließen wollte, als dem von Wagner abhängigen, in seiner »Salome« und »Elektra« angewendeten. Denn das Orchester hat sich vom Souverän bei ihm zum Tyrannen aufgeschwungen, der keine konstitutionelle Verfassung duldet, geschweige denn die ihm zugemutete Unterordnung verträgt. Um der sich in langen Mono- und Dialogen abwickelnden Tragödie Hofmannsthals durch lyrische Episoden die gehörige Abwechslung zu verschaffen und demgemäß für die formale, praktische Bedeutung des alten tragischen Chores einzutreten, müßte das Orchester auf die Hälfte seiner Privilegien verzichten; der in ihren angebornen menschlichen Hoheitsrechten gekränkten Singstimme müßte Gehör verschafft und dem Dichterwort der gebührende Respekt erwiesen werden. Dann würden die lyrisch-epischen Intermezzi des Instrumentalchores die dramatische Spannung besänftigend lösen, um eine wohltuende Abwechslung in den Dialog und jene schöne und hohe Ruhe in die Handlung zu bringen, die nach Schiller der Charakter eines edeln Kunstwerkes sein muß. Und dann würden auch die drei oder vier erhabenen und lieblichen Glanzstellen, für welche der Komponist seine beste musikalische Kraft aufgespart und gesammelt hat, um sie in breitem Melos hinströmend zu ergießen, noch feiner wirken als jetzt, wo sie aus dem Charakter des Ganzen herausfallen und nichts weiter als eine zeitweilige Erlösung von der künstlich hergestellten Barbarei der übrigen Szenen bedeuten.

Uns scheinen die oft unerträglichen Mißklänge und grausamen Dissonanzen dieser Musik, für welche ein höchst bedenkliches, in den Fundamenten wackliges System von senkrechter Melodie und wagrechter Harmonie, von emanziperten Ober- und Vierteltönen konstruiert werden müßte, mehr ein verzweifeltes Auskunftsmittel des in Verlegenheit geratenen Symphonikers und Dramatikers zu sein als das Zeichen jugendlichen musikalischen Kraftgefühles. Strauß wünscht die Aufmerksamkeit des Publikums wach und rege zu erhalten, und da er im geheimen das Gefühl hat, daß ihm dies selten und nur da gelingen will, wo der Dichter sich mehr an das Sensorium als an den Intellekt des Zuhörers wendet, was nur ausnahmsweise der Fall ist, so sucht er eigensüchtig und gewaltsam zu erzwingen, was ihm sonst versagt [4] würde. Skeptisch betrachten wir den ungeheuren Aufwand von Geist, Witz und Raffinement, mit dem Strauß den ihm widerstrebenden Reden des Dichters beizukommen sucht. Ihre Kostbarkeiten werden unter einer noch schwereren Last von Edelsteinen erstickt und begraben. Welche grundvergebliche, völlig überflüssige Mühe gab sich der Komponist, in der oben erwähnten, dialektisch meisterhaft geführten Szene zwischen Mutter und Tochter, in das Geflecht ihrer einander wie blutgierige wilde Tiere umschleichenden Gedanken einzudringen! Da halfen keine dynamischen Brechstangen, keine rhythmischen Luftsprünge, da versagten die Leitungsdrähte der Thematik, da erlosch das Licht in der Laterne der Leitmotive. Jedem für Vernunftgründe Zugänglichen, für künstlerische Wirkungen Empfänglichen müßte es klar werden, daß das gesprochene Dichterwort hier doch mächtiger wirkt als das gesungene, und daß es eine Selbstverkennung und Ueberhebung der Musik ist, aus ihrem Geiste eine vom Dichter empfangene fertige Tragödie wieder gebären zu wollen.

Dagegen kommen die Szenen, welche sich der Oper näherten, zu voller, mächtiger Wirkung, wie der in Wohllaut schwelgende Es-Dur-Walzer der ihre Lebenslust besingenden Chrysothemis, die ergreifende Wiedererkennung der Geschwister mit der feierlich verhaltenen Innigkeit des Orest gegenüber der fassungslosen Freude Elektras, und mehr als alles andre der überwältigende Schluß des Werkes. Dieses prächtig gesteigerte Ende, das den Siegestanz der ekstatischen, erdentrückten Elektra als verklärtes Lichtbild dem grauenhaften Anfang gegenüberstellt, ist ein wunderschönes Opernfinale. Die Mächte des Lebens triumphieren mit dem Musiker, das eingeschmuggelte Wort »Liebe« scheint aus Nacht und Tod einen neuen Tag heraufzuführen – und der Gott tritt aus der Wolke.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42079 (Version 2021‑09‑30).

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