R. B.
»Elektra. Erstaufführung in der Wiener Hofoper am 24. März«
in: Fremden-Blatt, Heft 84, Donnerstag, 25. März 1909, Rubrik »Feuilleton«, S. 21–22

relevant für die veröffentlichten Bände: I/4 Elektra
»Elektra«.
(Erstaufführung in der Wiener Hofoper am 24. März.)

Unser unwillkürliches Empfinden setzt die Namen hervorragender Männer gern in Verbindung mit dem, was sie bedeuten. Man hat in Mozart den Zarten, in Wagner den Wagenden, in Bruckner den Ueberbrücker herausgehört und denkt ebenso bei Strauß sogleich an Kampf und Fehde. Der Name, der durch zwei Generationen beim Publikum mit blumigen, einschmeichelnden Vorstellungen oder leicht beschwingten rhythmischen Gefühlen verknüpft war, erhält durch Meister Richard den Zweiten wieder seinen kriegerischen Sinn. Und jedenfalls muß ihm das Verdienst bleiben, daß er die seit Wagners Tod in Ermüdung verfallene Musikwelt von der Bärenhaut ihrer letzten Errungenschaften aufgerüttelt und gezwungen hat, sich Freiheit und Leben täglich neu zu erobern, daß er einer der großen künstlerischen Gewissenswecker unserer Zeit geworden ist.

Auch sein neues Bühnenwerk, die »Elektra«, ist eine Schöpfung, welche die Zeitgenossen nötigt, über die Prinzipien der Kunst nachzudenken, die überkommenen Anschauungen zu revidieren. Sie läßt keinen gleichgiltig [sic] und drängt zu ernster Auseinandersetzung. Zwischen den äußersten Extremen pendelt das Urteil auch des Einzelnen. Man will verdammen und der Laut des Abscheus wandelt sich oft auf den Lippen noch zum Ruf der Bewunderung. Die Maßstäbe entgleiten uns zwischen den Fingern. Aber aus dem Widerstreit der Empfindungen habe ich doch den Eindruck mit heimgenommen, etwas Großartigem, wenn schon nicht etwas Großem beigewohnt zu haben. Ueber den ersten Eindruck zur abschließenden Kritik vordringen zu wollen, scheint mir aber nicht weise. Wir müssen Abstand gewinnen. Und sei es nur, um zu gewahren, daß hier keine für die weitere Entwicklung verbindlichen Normen gezogen sind, sondern daß ein besonderes Genie sich hier einen ästhetischen Ausnahmszustand geschaffen hat.

Es wird gesagt, daß Strauß das musikalische Drama über Wagner hinaus entwickeln wolle. Man rühmt es sogar, daß er seine Musik mit Dichtungen von literarischer Qualität verbindet. Die Formel: Musik + Drama = Musikdrama sieht auf dem Papier allerdings sehr einleuchtend aus, aber das Problem der Oper ist keine so simple Addition. Ein fertiges Drama zu komponieren, ergibt einen Pleonasmus. Wer zieht einer Statue von Eigenwert hinterher Kleider an? Mögen sie auch von Künstlerhand entworfen sein: sie verdecken charakteristische Schönheiten eines Kunstgebildes, das ohne diese Zutat zu wirken bestimmt war. Das Literaturdrama muß so vieles umständlich motivieren und wortreich mitteilen, was der Musiker mit wenigen Tönen sagen kann[,] und daraus resultieren dann so manche langwierige und langweilige, weil dramatisch überflüssige Parteien [sic] der Straußschen Werke. Die große Szene zwischen Klytemnästra [sic] und Elektra muß uns, wenn wir den Sinn der Worte nur einigermaßen verstehen, die Haare sträuben machen, mit Schauder erfüllen, wogegen sie, da Straußens Tonmalerei das Wort übertäubt, mehr verwunderlich und abschreckend als furchtbar wirkt. Die besten Operntexte werden stets diejenigen sein, deren Handlung schon als Pantomime verständlich ist, bei denen die größere oder geringere Verständlichkeit des Wortes eine untergeordnete Rolle spielt.

Seltsam ist nun, daß Strauß, der die literarischen Qualitäten seines Textes durch die üppige musikalische Umkleidung fast entkräftet, sich als Komponist oft an jedes einzelne Wort des Textes hängt, um ihm musikalische Inspirationen zu entsaugen. Sein Orchester ist streckenlang nichts als eine fortlaufende Umsetzung der im Dialog auftauchenden Vorstellungen in klingende Metaphern. Wir apperzipieren fortwährend Wirkungen, ohne daß uns die Ursache, das erklärende Wort ins Bewußtsein tritt. Somit bleibt nur der Effekt, die Wirkung ohne Ursache und der Eindruck des Willkürlichen, Unorganischen dieser Tonsprache.

Wagners Kampf gegen die vormärzliche Oper ist ein Kampf für das Drama gegen die Tyrannei der Musik gewesen. Das Drama war zum Vorwand geworden, um melodisch einschmeichelnde (Rossini) oder packende (Meyerbeer) Gesangstücke anzubringen. Wagner hat diese Hypertrophie des Gesanges beseitigt und ihm in dem zu ungeahntem Reichtum erblühten Orchester ein Gegengewicht gegeben. Bei Strauß kippt die Wage [sic] völlig nach der instrumentalen Seite um, während der Gesang zum Schrei und Akzent verkümmert. Die Welt Meyerbeers hat sich herumgedreht und primo uomo ist nicht mehr der erste Tenor, sondern der erste Kapellmeister.

Näherte sich die Oper ehedem oft der Kantate, so wird sie nun durch Strauß in der Richtung auf die Symphonie verschoben. Man kann »Elektra« vielleicht am reinsten genießen, wenn man sich ihr vom Standpunkt einer durch Szene, Aktion und Gesang statt durch ein Programmbuch erläuterten symphonischen Dichtung nähert. Unsere Theorie, die bisher die Szene als das wahre Rhodus des Dramatikers betrachtete, mag diese Kunstform verwerfen. Aber wir müssen ihr einräumen, daß sie in der Hand eines Genies gewaltige Eindrücke zu erzielen gestattet, daß hier vielleicht neue ästhetische Werte im Werden sind.

Es wird allgemein zugegeben, daß »Elektra« wie auch »Salome« in der Originalgestalt eine stärkere spezifisch dramatische Wirkung ausübt. Bei Strauß ertrinkt das Drama fast in der Musik, die es überflutet. Ihre Wogen führen manches Abscheuliche und Unerquickliche mit an Schlamm und Tang, bieten aber doch im Ganzen ein überwältigendes Hörspiel. Es kommt zu Höhepunkten, die ich nicht anders als hochherrlich nennen kann, die alles wohl hinter sich lassen, was man im Theater jemals erlebt hat. Und dabei bilden nicht etwa die Quadern und Blöcke edler Melodien und wuchtiger Themen die Bausteine, es wird alles nur aus Motivsplittern, aus musikalisch fixierten Nervenzuckungen mit subtilster Mosaik zusammengesetzt, aus Tonmolekülen, die zu klein sind, um eine bestimmte Tonart auszuprägen und darum alle möglichen Kombinationen zulassen. Und aus diesen Nichtsen türmt Strauß wahre musikalische Königspaläste auf, die uns den Begriff des Erhabenen weniger durch die Kühnheit fester Umrisse, als durch das lebendige Gefühl einer unendlichen Steigerung ins Riesenhafte versinnlichen. Am meisten wohl in den Zwischenspielen, wo er ledig aller vokalen Fesseln frei ausatmet. Zugegeben, daß dieser Gipfelung nach der Höhe zu die Kraft der Vertiefung und Verinnerlichung nicht entspricht. Aber das Theater braucht kein Basrelief. Und Strauß ist nun einmal nicht der Mann der stillen Größe, der ruhigen Simplizität, sondern ein Heros der Ekstase, ein Genie der Komplikation. Ihm naive Empfindungsmusik statt Affekt‑ und Intelligenzkunst abzufordern, ist ungefähr ebenso vernünftig als zu beklagen, daß an den Fichten keine Trauben reifen. Und im Garten der Tonkunst haben vielerlei Gewächse nebeneinander Platz.

Freilich, da kommen auch die Siebengescheiten, die meinen: »Das ist Technik.« Schön! Dann wäre sie nachahmlich und erlernbar. Wo sind aber dann die Komponisten, welche die Straußische Technik sich angeeignet und ähnliche Eindrücke auf die Zeitgenossen bewirkt haben? Bitte, versucht es doch und führt den ohrenscheinlichen Beweis. Setzt euch einmal Tag und Nacht auf die Hosen, trainiert euer Gehirn und schreibt uns bei der Lampe, ein System unter dem andern mit erklügelten Notenköpfen füllend, einen einzigen Satz, dessen Klangzauber uns so unwiderstehlich in Bann schlägt, dessen Schwung uns selber Flügel gibt, dessen Temperament uns fiebern und glühen macht, dessen sprühender Geist unser ganzes Fühlen und Denken in Aufruhr bringt. Macht uns das vor, ach nur ein einzigmal, ihr Herren vom einfachen und vom doppelten Kontrapunkt, und wir wollen Straußens Herme vom Altar der modernen Tonkunst stürzen, wollen euch die Elektrapartitur verbrennen helfen, wollen an die Heiligkeit des Dreiklangs glauben, die Tonalität als das höchste Sakrament der Musik verehren, wollen der Teilung der Instrumente, wollen dem Heckelphon abschwören. Könnt ihr das aber nicht, so gesteht doch ehrlich zu, daß auch Genie in Straußens Partituren steckt, dann suchet davon erst die Regeln auf und bequemt euch von den kurulischen Stühlen herab in die Schule des Meisters, der gar viele alte Werte umgewertet hat. Wenn wir bei ihm Harmonien finden, die es nach der herrschenden Lehre gar nicht gibt, und wenn sie so wundervoll klingen, wie etwa der Bläserakkord, sobald Elektra ihren Bruder erkennt, dann bleibt eben nichts übrig als umzulernen.

Der Stil der »Elektra« ist dem der »Salome« nahe verwandt, vielleicht noch bewußter, sicherer als dieser. Dort die Entartung des Orients, hier die Hysterie der Antike. Die einseitige Bevorzugung krasser Kolportagestoffe darf man Strauß wohl nicht mehr vorwerfen, da seine nächste Oper ja ein Lustspiel wird. Trotz des beängstigenden Aufgebotes orchestraler Heerscharen bleibt die Sparsamkeit seiner Taktik bewundernswert. Denn Strauß hält den kolossalen Apparat (110 Musiker) eben nicht zur bloßen äußerlichen Verstärkung des Klanges in Bereitschaft, sondern um das Kolorit, den Ausdruck durch Teilungen und mannigfache Mischungen auf das feinste zu differenzieren. Nur ausnahmsweise arbeitet er mit »vollem Werk«, macht aber dann auch wirklich mit der brennenden Glut seiner Farben alles andere neben sich erblassen. Eigentümliche Wirkungen erzielt er, wenn er die Instrumente, gruppenweis zusammengeballt, gegen einander führt. Weniger kann ich mich mit jenen Partien befreunden, worin sich der Meister in kleinliche Detailmalerei verliert, wo das Orchester blöckt [sic], wiehert, heult, faucht, gurgelt und jedes Wort pedantisch illustriert. Sie machen die erste Hälfte der Oper geradezu widerwärtig. Die Charakterzeichnung der Personen scheint mir nicht sehr gelungen, doch hat da Hofmannsthal zum Glück schon ganze Arbeit geleistet. Seltsam ist nur, daß der Meister der instrumentalen Heerscharen das edelste aller Instrumente, die menschliche Stimme [22] so gar nicht zur Geltung bringt, daß er sie in den unbequemsten Lagen und in Intervallsprüngen führt, wo sie gegen das Orchester unterliegen muß.

Wie »Salome« beginnt auch »Elektra« ohne ein Vorspiel. Die einleitende Szene der Mägde hinterläßt einen zerfahrenen Eindruck. Wagners Walküren sind ein bürgerlicher Damengesangverein dagegen. Nach dem markant deklamierten, hinreißend gesteigerten Monolog der Elektra, der den motivischen Gehalt des Werkes in nuce zusammenfaßt, kommt der Auftritt ihrer weltfrohen Schwester Chrysothemis, für den sich Strauß die hellen Farben klug aufgespart hat. Die Musik wird hier etwas banal wie die Gestalt selber. Hingegen steckt die große, fast melodramatisch behandelte Szene der Klytemnästra voll origineller, neuartiger Effekte, bildet aber, da man kein Wort vom Dialog versteht, im ganzen eine harte Geduldprobe. Auch Elektras Versuch, die Schwester zur Tat zu überreden, läßt einen ziemlich kalt, und erst in dem Moment, wo Elektra das Beil ausgräbt, wird die Musik mit einem Schlage lebendig. In der Erkennungsszene rührt Strauß zum erstenmal die Note der Empfindung an. Hier schlägt das Herz der ganzen Partitur. Die Mordszene dann gibt Strauß Gelegenheit, unsere Nerven fast bis zum Zerspringen anzuspannen. Darauf versteht er sich ja ausgezeichnet. Sehr aufhaltend und abschwächend ist das Duo der Schwestern nach dem Mord. Hier hätte Herr Direktor v. Weingartner die Ueberzeugungskraft seines Glaubens an den Rotstift an einem lebendigen Komponisten versuchen können. In den an sich hinreißenden Triumph des Schlusses kann man leider nicht so recht einstimmen. Das ist ein Opernfinale im schlimmen Sinne. C-dur. Ende gut[,] alles gut. Die Bewohner von Mykenä schreien Hurra, als wenn Orest nicht die angestammte Königin und Mutter, sondern einen Landesfeind erlegt hätte. Wir scheiden von dem Werke gepackt, aber nicht ergriffen, durchschüttelt[,] aber nicht erschüttert, und das Ende vom Lied ist keine seelische Katharse, sondern eine Nervenemotion, ein Gehörexzeß.

Ich fasse zusammen: die »Elektra« erscheint mir als ein problematisches Kunstwerk. Ein Drama, das eher eine Symphonie ist, eine symphonische Dichtung mit dramatischen Ansprüchen. Es ist Strauß noch nicht gelungen, den Ausgleich zwischen einem überwuchernden Orchester und einem atrophischen Gesangsausdruck zu finden. Aber er hat Partien, ja Szenen von einer Macht und Pracht geschaffen, die der Musik bisher versagt geblieben war, er hat wieder einige Paragraphen der Musiktheorie über den Haufen gestoßen, hat Ausblicke gebrochen in neue Welten des Klanges, und selbst, wenn die »Elektra« vor dem geläuterten Urteil der Zukunft nur als ein Uebergang zu anderen, in sich vollendeten Taten der Tonkunst sich erweisen sollte, so bezeichnet sie eine musikalische Bildungsstufe unserer Zeit, die man mindestens einmal betreten haben muß.

Unsere Hofoper hat mit der Aufführung Ehre eingelegt. Freilich die Schauergeschichten über die »Unmöglichkeit« des Werkes, die aus den Probesälen in die Oeffentlichkeit gedrungen waren, konnten nur den Laien schrecken: »Elektra« ist in Wien nicht komplizierter als in Dresden, Berlin und Frankfurt, wo man der Schwierigkeiten Herr geworden ist. Allerdings entbehrte die Hofoper als das einzige große deutsche Institut der Vorschule durch »Salome«. Der Held des Abends war natürlich unser einziges Orchester. Die Titelrolle gab Mlle. Marcel. Eine glänzende schauspielerische Leistung. Aber geschreilich war die Dame der riesigen Aufgabe für die Stimmbänder nicht gewachsen. Ihr Organ beherrschte die Szene nicht, es machte sich nur mühsam vernehmlich. Mit ihrer Klytemnästra hat unsere geniale Mildenburg die Galerie ihrer heroischen Charaktergestalten um eine grausige Type vermehrt. Ihr Todesschrei ging uns durch Mark und Bein. Dagegen war die Chrisostemis [sic] (Frau Weidt) etwas farblos und der Orest des Herrn Weidemann zu behäbig, nicht jugendlich genug in der Tongebung. Man hätte eher den Onkel als den Bruder Elektras in ihm vermutet. Roller hatte dem Atridendrama ein szenisches Milieu von glänzender, einfach erhabener Gewalt geschaffen. Und da im Reiche Hofmannsthals die Sonne nicht aufgeht, konnte sich sein Genie der Finsternis so recht entwickeln. Die übrige Misenszene [sic] lag in Herrn v. Wymetals besorgter Hand. Die Geberdensprache [sic] fand ich etwas monoton. Dieselben Attitüden und Posen wiederholten sich zu oft. Auf die Rechnung der Autoren ist offenbar der sehr effektvoll sich abspielende Kampf zwischen Orestianern und Aegisthianern im Hintergrunde zu setzen. Berechtigt erscheint er aber nicht, denn eben wurde noch festgestellt, daß »kein Mann im Hause ist«[,] und gleich darauf verwandelt sich die Burg zur Kaserne, worin sich die ganze Wehrmacht von Mykenä ein blutiges Treffen liefert. Der Erfolg war durchschlagend. Und schon lange hat man in der Hofoper solchen Enthusiasmus nicht erlebt. Das Publikum blieb über eine Viertelstunde auf den Plätzen, um Strauß mit den Sängern immer wieder herauszurufen. Aber wo blieb Herr Kapellmeister Reichenberger, der zielbewußte, energische Dirigent des Abends? Er hätte diesmal nach Recht und Verdienst neben dem Komponisten erscheinen dürfen.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Sebastian Bolz

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b42127 (Version 2021‑09‑30).

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