Dokument
Hugo von Hofmannsthal an Richard Strauss
Freitag, 27. April 1906, Wien

relevant für die veröffentlichten Bände: I/3a Salome, I/4 Elektra

Verehrter Herr!

Ihr gütiger Brief, für den ich so verspätet zu danken sehr beschämt bin, kam mir nach Rom nach und leider verlor ich ihn und wußte dann die Adresse nicht mehr. Ihre Karte nun gibt sie mir wieder und zugleich die freundliche Aussicht, Sie hier bei mir zu sehen. Denn nach Graz1 – wie gerne möchte ich hin! – werde ich wohl kaum können: denn gerade in der zweiten Hälfte des Mai erwartet meine Frau ihre Entbindung. (Dagegen bin ich im August auch nur eine Stunde weit von Salzburg.)

Es hat mich aufs herzlichste gefreut, auch in Ihrem Brief ausgesprochen zu sehen, was lange mein Gedanke und Wunsch war: daß wir etwas zusammen früher oder später machen werden und müssen.

Nun muß ich schon sagen, daß ich, wie die Dinge mir nun zu liegen scheinen, allerdings sehr froh wäre, wenn Sie es möglich fänden, zunächst an der »Elektra« festzuhalten, deren »Ähnlichkeiten« mit dem Salome-Stoff mir bei näherer Überlegung doch auf ein Nichts zusammenzuschrumpfen scheinen. (Es sind zwei Einakter, jeder hat einen Frauennamen, beide spielen im Altertum und beide wurden in Berlin von der Eysoldt kreiert: ich glaube, darauf läuft die ganze Ähnlichkeit hinaus.) Denn die Farbenmischung scheint mir in beiden Stoffen eine so wesentlich verschiedene zu sein: bei der »Salome« soviel purpur und violett gleichsam, in einer schwülen Luft, bei der »Elektra« dagegen ein Gemenge aus Nacht und Licht, schwarz und hell. Auch scheint mir die auf Sieg und Reinigung hinauslaufende, aufwärtsstürmende Motivenfolge, die sich auf Orest und seine Tat bezieht – und die ich mir in der Musik ungleich gewaltiger vorstellen kann als in der Dichtung –, in »Salome« nicht nur nicht ihresgleichen, sondern nichts irgendwie Ähnliches sich gegenüber zu haben.

Aber es ist nicht meine Sache, diese Aufgabe, die Ihnen zu meinem eigenen großen Erstaunen sich darbot und Ihnen einen Augenblick lockend schien, Ihnen aufzuschmeicheln: aber – ich sehe in absehbarer Zeit (und ums Absehbare handelt sich’s doch dem, der schaffen und weiterbauen will) nicht die Möglichkeit, eine andere Dichtung hervorzubringen, die nach Stoff und Umfang geeignet scheinen könnte, Ihnen als Grundlage einer Tondichtung zu dienen.

In weiter Ferne kündigt sich, fata-morganahaft, die Vision der »Semiramis« an: aber diesen Stoff mit Gewalt herbeizuziehen, ist mir unmöglich, und wenn es etwa gelänge – so wäre gerade dieser Stoff im orientalischen Gewebe der Farben leicht in Gefahr, mit »Salome« zu konkurrieren, mehr als »Elektra«. Sie sprachen von einem Stoff aus der Renaissance. Lassen Sie mich Ihnen darauf, verehrter Herr, offen antworten: ich glaube, daß nicht nur ich, sondern jeder dichterisch schaffende Mensch unserer Zeit keine Epoche mit so präziser Unlust, ja mit sicherem Widerwillen aus seinem Schaffen ausschließen wird, wie diese Epoche. Die Stoffe aus der Renaissance scheinen dazu bestimmt, die Pinsel der unerfreulichsten Maler und die Federn der unglücklichsten Dichter in Bewegung zu setzen. Trotz umlaufender Phrasen – die übrigens seit ein paar Jahren schon mehr im Verstummen sind – glaube ich, daß uns keine Epoche in ihrem Lebensinhalt so völlig fern ist als diese –, und daß sogar keinem Kostüm auf der Bühne eine geringere Suggestionskraft innewohnt (nicht einmal der Allongeperückenzeit) als jener bis zum Grausen abgebrauchten Lieblingsdrapierung der sechziger bis achtziger Jahre: Renaissance!

Was nun den nächsten meiner eigenen Stoffe anlangt, so steht es damit für Ihre Arbeitszwecke nicht zum Besten, wie ich – leider hierin gegen mich selber ohnmächtig – es wohl wünschen würde. Dieser Stoff, die Todesstunde behandelnd, anklingend an jenes mittelalterlich naive Stück »Jedermann«, formt sich mir unwiderstehlich zu einer Szenenfolge ziemlich realen Gepräges um, in Prosa, ja im Wiener Dialekt will es sich gebären –, und wenn sich dem trotzdem etwas Musik abgewinnen ließe, so habe ich ja noch nichts davon niedergeschrieben, und darüber gingen dann die Sommermonate, Ihre kostbaren Arbeitsmonate hin. So scheint mir, mehr als ich dies in Berlin noch absehen konnte, alles wieder auf »Elektra« hinzudrängen.

Lassen Sie mich nun hoffen, daß ich hierüber Ihre Meinung mündlich zu empfangen die freundliche Gelegenheit am 9. oder 10. Mai hier draußen haben werde. Meine Frau ist noch hinreichend wohl, jedenfalls werde ich da sein und ganz außerordentlich froh, Sie einmal zu Tisch, oder wann es Ihnen sonst paßt, hier zu haben.

Sie schreiben mir, bitte, eine Zeile, bevor Sie ankommen und sagen mir das Hotel. Ihr herzlich ergebenerHofmannsthal

1In Graz fand die österreichische Erstaufführung von »Salome« statt. [Anmerkung in Transkriptionsgrundlage].
verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Adrian Kech, Sebastian Bolz, Claudia Heine

Quellennachweis

  • Original: Unbekannt

    • Autopsie: Keine Autopsie des Originals.

Bibliographie (Auswahl)

  • Edition in Richard Strauss / Hugo von Hofmannsthal / Willi Schuh (Hrsg.), Briefwechsel (= Serie Musik Piper/Schott, Bd. 8252), München und Mainz, 1990, S. 18–20. (Transkriptionsgrundlage)
  • Auszug in Hugo von Hofmannsthal / Mathias Mayer (Hrsg.) / Klaus E. Bohnenkamp (Hrsg.), Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, [Bd.] VII: Dramen 5, Frankfurt am Main, 1997, S. 421.

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/d20008 (Version 2021‑09‑30).

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