Hanslick, Eduard
»Philharmonische Konzerte.«
in: Neue Freie Presse (Wien), Heft 11270 (Morgenblatt), Donnerstag, 9. Januar 1896, Rubrik »Feuilleton.«, S. 1–2

relevant für die veröffentlichten Bände: III/7 Till Eulenspiegels lustige Streiche
Philharmonische Concerte.

[1] In den beiden letzten Philharmonie-Concerten bekamen wir zwei Novitäten zu hören: ein Clavierconcert von E. Schütt und eine symphonische Dichtung von Richard Strauß: »Till Eulenspiegel’s lustige Streiche.« Beide haben Interesse erregt und lebhaften Beifall geerntet; eine bleibende Bereicherung des Concert-Repertoires dürften sie schwerlich bedeuten. Herr Schütt gefiel weit mehr durch sein virtuoses Clavierspiel, als durch seine Composition. Er verfügt über ein graziöses Compositions-Talent von bescheidenem Wuchs, das sich in dem [Clavierconcert] zu anspruchsvoll und gewaltsam streckt. Schütt’s weiches, schmiegsames Naturell, seine französisch-russische Eleganz sprechen sich am gewinnendsten in kleinen Formen aus, wie seine bekannteren Clavierstücke darthun. Erfindung und Gestaltungskraft sind nicht kräftig genug in Schütt, um große symphonische Formen zu erfüllen und zu bewältigen. Die anmuthigen Einzelheiten seines Concerts, vornehmlich des Andante, verschwimmen häufig in dem Wust unruhiger Passagen oder werden erdrückt von einer geradezu mörderischen Instrumentirung. In diesem Aufgebot der Bläser und der Lärminstrumente hat sich der Componist offenbar verrechnet, und hier dürfte durch nachträgliche Lichtung eine freiere Aussicht zu gewinnen sein für spätere Aufführungen. Herr Schütt, der sich leider selten öffentlich hören läßt, hat durch seine glänzende Virtuosität das Publicum der Philharmonie-Concerte förmlich überrascht.

Das folgende (fünfte) Concert begann mit einer der schönsten Symphonien von Mozart, der dreisätzigen in D-dur. Sie wurde fein und lebendig gespielt, hätte aber durch etwas weniger schnelle Tempi, besonders im ersten Satz, noch gewonnen. Die ganz eigene, echt Mozart’sche Grazie geht leicht verloren, wenn man sie auch nur ein wenig zur Eile antreibt. Die Symphonie wurde so stürmisch und anhaltend applaudirt, daß wir uns der Empfindung nicht erwehren konnten, es stecke eine kleine anticipirte Demonstration darin. War es doch vorauszusehen, daß zwei nachfolgende Nummern allermodernsten Styles einen organisirten Beifallssturm entfesseln würden, und da mochte doch die Majorität des Publicums ihren Mozart nicht allzu schmerzlich von den Herren Richard Strauß und Bruckner geschlagen wissen. Mendelssohns’s Hebriden-Ouvertüre hätte den Platz nach der Mozart’schen [Symphonie] bekommen sollen; unmittelbar nach einem coloristischen Paradestück wie der »Eulenspiegel« von R. Strauß mußten ihre Farben etwas verblaßt aussehen, und die Farben geben heute, wie es scheint, allein den Ausschlag. Richard Strauß hat in Einem [sic] Orchestersatz (auf den die Bezeichnung »in Rondoform« nur in weitester Auslegung paßt) eine wahre Weltausstellung von Klangeffecten und Stimmungscontrasten eröffnet. Die Einheit dieser rhapsodischen Einfälle haben wir in der Aufschrift »Till Eulenspiegel’s lustige Streiche« zu suchen. Niemand wird an derlei poetischen Anregungen Anstoß nehmen, wenn nur (wie Schumann stets betont hat) das Musikstück auch ohne die specielle Ueberschrift verständlich, zusammenhängend und reizvoll ist. Auch daß gerade unser Eulenspiegel zu humoristischer [Musik] verlocken könne, begreift man. Er hat zu einer Anzahl älterer Singspiele (von S. Schmidt, Rungenhagen, Adolph Müller) den Stoff geliefert, von Nestroy’s köstlicher Posse ganz abgesehen. Wie ein echter Tondichter solche Anregungen verwerthet, hat uns Schumann in seinen »Klängen aus Osten« gezeigt. Ihm war bei diesen kleinen Charakterstücken die orientalische Schelmenfigur des Abu Seid vorgeschwebt, den Schumann selbst ein Seitenstück des Eulenspiegel nennt, nur edler und poetischer. Streicht man von dem Hefte die Ueberschrift und das kurze Vorwort, so lassen uns die reizenden Clavierstücke Schumann’s keinen auslegerischen Zweifel, keinen unverstandenen Rest zurück. Anders mit R. Strauß’ Orchester-Rondo. Trüge es nicht die Ueberschrift »Till Eulenspiegel« und damit die Nöthigung, nach einem bestimmten Zusammenhange zu suchen, hieße es einfach »Scherzo«, so würde der unbelehrte und unhöfliche Zuhörer es vielleicht kurzweg ein verrücktes Stück nennen. Mit seinem Titel nennen wir es, für unseren bescheidenen Theil – ebenso. Wie viel hübsche, witzige Einfälle tauchen darin auf; aber kein einziger, dem nicht sofort ein anderer auf den Kopf spränge, ihm das Genick zu brechen. Man täuscht sich, wenn man diese maß- und meisterlose Bilderjagd für ein Ueberquellen jugendlicher Genialität halten möchte, für die Morgenröthe einer großen neuen Kunst; ich kann darin nur das Gegentheil erblicken: ein Product der raffinirtesten Décadence.

Es fehlen die [neuen] bedeutenden Gedanken, musikalischen Ideen und die sie gestaltende Kraft. Diesen Mangel ersetzen uns keine Aeußerlichkeiten, keine Geistesblitze, und wären es die glänzendsten. Wir besitzen ein Buch von dem Grazer Wagnerianer Hausegger: »Die Musik als Ausdruck«; dafür gäbe Strauß-Eulenspiegel ein prächtiges Beispiel ab. Jede Figur, jede Modulation soll etwas »ausdrücken«. Was? Darüber mögen wir uns den Kopf zerbrechen. In der Partitur wimmelt es von suggestiven Vortragsanweisungen, die mitunter ans Komische streifen: »liebeglühend, wüthend, leichtfertig, schattenhaft, entstellt, kläglich«. Sogar ein einzelner Ton, das tiefe F der Contrabässe und Posaunen, soll »drohend« vorgetragen werden! Anders kann man ihn doch nicht geigen oder blasen, als wenn einfach forte oder ff darunter stünde. Es müßten denn die Orchestermitglieder ein drohendes Gesicht dazu machen. Vielleicht kommt auch das noch einmal in die »Musik als Ausdruck«.

Die Tyrannei der »Musik als Ausdruck« beginnt uns etwas langweilig zu werden; wir möchten nicht ungern auch wieder einmal »Musik als Musik« hören. Damit ist gesunder Humor und allerhand Eulenspiegelei wohl verträglich. Nur müssen unsere jüngsten [Musik]-Symbolisten die Jean Paul’sche Definition vom Humor, der mit einem Auge lacht, mit dem andern weint, nicht wörtlich übertragen wollen und es für Humor ausgeben, wenn sie uns ins rechte Ohr D-dur, ins linke D-moll blasen. Till Eulenspiegel war ein lustiger armer Teufel; die Schelmenstreiche, mit denen er Bauern und Spießbürger aufsitzen ließ, hatten [2] nicht die geringste Aehnlichkeit mit dem Einbruche der Engländer im Transvaal oder dem Kriege der Italiener in Massauah. Es darf uns demnach verwundern, daß R. Strauß für seinen »Eulenspiegel« eine so furchtbare Armee von Orchester-Instrumenten ausrücken läßt. Flöten, Oboen, Clarinetten, alle vierfach, dazu acht Hörner, sechs Trompeten, drei Posaunen nebst Baßtuba, Pauken, große Trommel, Tambour, Becken, Triangel und – eine große Ratsche! Solche Ehren hat sich Eulenspiegel sein Lebtag nicht träumen lassen. Mit dieser Armee operirt der Componist außerordentlich gewandt; wir kennen ihn längst als einen glänzenden Virtuosen der Mache. Seine speciellen Talente schmücken auch das »Eulenspiegel«-Scherzo. Es ist verschwenderisch in Klangeffecten, pikant in seinen überraschenden Contrasten, voll contrapunktischer Kunststückchen, origineller Rhythmen und witziger Modulationen; Alles furchtbar geistreich und wahnsinnig schön.

Die Strauß’sche Novität, welche die vollendetste Virtuosität in Anspruch nimmt, wurde unter Hanns Richter’s Leitung bewunderungswürdig gespielt. Ein ähnliches Meisterstück lieferten die Philharmoniker in ihrer jüngsten Aufführung der »Sinfonie pathétique« von Tschaikowsky. Wir haben das wunderliche Werk auch zum zweitenmal gern gehört; es ist doch Seele darin, nicht bloßer Witz. Auch eine der durch ihre erhabene Länge berühmten Bruckner’schen Symphonien kam neuerdings zur Aufführung. Diesmal war es »Die Romantische« in Es-dur. Nachdem sie bereits dreimal in Wien gespielt worden ist, darunter zweimal unter Hanns Richter, so dürfen wir wol heute an ihr respectvoll vorübergehen.

[…]

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Schenk, Stefan

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b45865 (Version 2025‑06‑04).

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