Seidl, Arthur
»Guntram.«
in: Neue Deutsche Rundschau . (Freie Bühne), Bd. erstes und zweites Quartal, Jg. 5, 1894, S. 651–652

relevant für die veröffentlichten Bände: III/7 Till Eulenspiegels lustige Streiche
Guntram.

[651] Das kleine Weimar hat in der Erstaufführung des Guntram von Richard Strauss am 10. Mai dortselbst ein wirkliches Kunstereignis allerersten Ranges erlebt. Richard Strauss ist ganz zweifellos der Zukunftsreichste und Fortgeschrittenste, der – um einen Lachnerschen Ausdruck hier zu gebrauchen – »Selberaner« unter den Nach-Wagnerianern – nicht allein als Musiker, sondern auch als Dichter; und was das Bemerkenswerteste an seiner Erscheinung heute ist, mit seiner Persönlichkeit kommt zugleich in der bisherigen geistigen »Wagner-Schule« eine neue, moderne Richtung Nietzsche-Stirner-Mackayscher Tendenz zum Durchbruch, die nichts weniger und nichts mehr als einen radikalen um nicht zu sagen revolutionären linken Flügel innerhalb der Wagner-Bewegung in Aussicht stellt. »Neu-Wagnerianer« hat man ihn daher auch schon genannt. Als ich vorigen Herbst bei meinem Abschied von Weimar den Dichter-Komponisten – und das ist er! – zuletzt aufsuchte, sprachen wir noch von Nietzsche und er las mir einige Stellen aus dessen Hauptwerken vor; als ich ihn kürzlich, am Nachmittag vor der Première seiner Erstlingsoper, drei Stunden vor Beginn, in seiner Wohnung begrüsste, philosophierte er über Mackays aufgeschlagen vor ihm liegende »Anarchie« und spielte mir zwei jüngst von ihm gesetzte tiefpoetische Lieder mit Mackayschen Texten auf dem Flügel vor, wie als wäre er garnicht derjenige, der am selben Abend seine erste Oper herauszubringen hatte.

Schwere Not der Zeit – Friedenshymnus – Unabhängigkeit des Geistes, Selbstherrlichkeit des Genies und Selbstbestimmung des moralischen Menschen: das sind die grossen Hauptthemata der drei Akte des Dramas im Einzelnen. – »Holla, Sixtus, auf den hab' Acht!« darf es da für uns auf der Warte des Modernen heissen, denn »wie er musst', so konnt' er's – das merkt' ich ganz besonders!«

Auch in musikalischer Beziehung ist Strauss ja längst allen Nebenbuhlern um Haupteslänge voraus, der Selbständigste, Kräftigste und Eigenartigste unter ihnen. Sein blühendes Orchesterkolorit, die ganz besondere Palette seiner Instrumentalfarben hat ihm bisher noch Keiner abgeguckt; dem Bläserchor stellt er Aufgaben, wie dieser sie selbst bei einem Wagner, Liszt und Berlioz noch nicht gekannt hat. In demjenigen, worin seine »Guntram«-Musik den Hörer vertraut und bekannter anmutet, bewegt sie sich zwischen »Lohengrin« und »Parsifal«; in dem feinen Geäder des thematischen, polyphonen Gewebes aber geht sie – kaum möchte man es für möglich halten – selbst noch über »Tristan« hinaus: die dortige, detaillierte Seelenhandlung wird hier zur modernen Nervenanalyse gleichsam fortgebildet, das psychologische Moment noch weiter differenziert. Das hat viele stutzig gemacht, auch mich anfangs, namentlich im III. Akt der übrigens formell, sprachlich und musikalisch der am meisten durchgebildete und vollkommenste von den dreien ist, obwohl ich doch grade ihn zweimal vorher schon auf dem Klaviere gehört hatte – aber schon heute glaube ich ihn weit besser mitempfinden zu können.

Die Handlung ist vom Dichter gänzlich frei erfunden und nur das Kolorit, Kostüm und Lokale ist zum Zweck der Darstellung des Reinmenschlichen durch das musikalische Drama dem mittelalterlichen Kulturleben entnommen. Sie ist durch und durch inneres Erlebnis des Komponisten, aber eines von jenen ganz grossen, welche die Zeit, ihre Strömungen, [652] Zeichen und Ideen in sich widerspiegeln. Geistig knüpft es unmittelbar an »Lohengrin«'s Gralreich, an »Tannhäuser«'s Minnesang, an »Parsifal«'s Mitleidslehre, aber auch an Alex. Ritter's »Wem die Krone?« an. Dort sagt nämlich Heinz am Schlusse seiner Schilderung des Elendes in deutschen Landen:

»Und das muss durchaus anders werden, giebt's auf dieser schlimmen Erden um und um noch eine Spur von Christentum! (Zur Königin-Mutter): Ihr könnt es wenden! Ihr könnt es enden! Ach wüsst' ich nur kunstreich die Worte zu führen, ich wollte Gluten im Herzen euch schüren, entfachen ein zornig flammendes Wollen, Das führe durchs Land in donnerndem Grollen, Zu künden in leuchtendem Morgenrot auf's Neue der Menschenliebe heilig Gebot!«

Hier setzt »Guntram« unmittelbar ein. Aus einer ganz kleinen, unscheinbaren Bemerkung in einem Feuilleton der »Neuen freien Presse«: dass in Oestereich sich geheime, künstlerisch-religiöse Orden ausgebildet hätten zur Bekämpfung der weltlichen Richtung des Minnesanges – schöpfte Strauss, wie er mir selbst sagte, seinerzeit die Idee zu seinem Drama; ein mystisch-geheimnisvoller Bund von »Streitern der Liebe«, d. i. Künstlern, welche durch die Gewalt des Liedes die Herzen der Menschen zum Mitleid rühren und des Heilands Werke in ihnen wirken wollen, steht daher auch im Hintergrunde der Handlung. Guntram ist selbst ein solcher Bundessänger; seine Sendung an einen deutschen Fürstenhof, aber auch seine Schuld in Ausübung derselben und seine innere Entwicklung zur geistigen Freiheit aus diesem Bund mit seinen Erden-Satzungen heraus infolge eben jener Schuld, wie endlich seine selbst gewählte Sühne bildet den Vorwurf unserer Oper. Guntram aber ist Strauss; der Bund die Wagner'sche Gral-und Idealgemeinde; Friedhold, der Abgesandte des Ordens, kein anderer als – Alexander Ritter, des jungen Komponisten langjähriger Freund und Führer! Endet für diesmal das Ganze auch noch in heilig-ernster Entsagung – ein breiter, glänzender, weihevoller Schluss, der alles ergriffen und die Bühnenwirksamkeit des grossartig unvergleichlichen Werkes ein für allemal erwiesen hat – »man weiss nicht, was noch werden mag«. Wird es künftig heissen: »Der Stärkste ist am mächtigsten allein«, oder aber »Zwei-einig geht der Mensch zu best«?

Die Aufführung – getragen von den beiden Darstellern der ungemein schwierigen Hauptpartien, vom Komponisten selbst aufs Peinlichste einstudiert und ganz nach seinem Willen regiert, im verstärkten (nur leider nicht überdeckten) Orchester Meister wie Halir, Roesel, Grützmacher an ersten Pulten – war für Weimar ganz erstaunlich, ein neues, herrliches Blatt in dem Ruhmeskranze Weimar'scher Theatergeschichte, eine echte Kunst-Feier, die vielen unvergesslich bleiben wird. Der Abend trug dem Schöpfer des Werkes reiche Ehren ein, der Erfolg war ein voller, ganzer, unbestrittener – um so entschiedener, als die Oper seither unter wachsender Teilnahme noch zweimal wiederholt und für die Anfangs Juni in Ilm-Athen stattfindende grosse Tonkünstlerversammlung als Festaufführung in Aussicht genommen werden konnte.

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Schenk, Stefan

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b45868 (Version 2025‑06‑04).

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