[4] Das zweite Abonnement-Konzert, das gestern (Freitag) im Odeon stattfand, brachte eine Neuheit: »Eulenspiegel’s lustige Streiche nach alter Schelmenweise in Rondoform«, für großes Orchester gesetzt von Richard Strauß. Das Werk ist bereits in Köln und Berlin mit außergewöhnlichem Erfolge aufgeführt worden und wird voraussichtlich rasch seinen Weg durch die Konzertsäle nehmen. Es ist auch ein Tongebilde, das in hohem Grade das Interesse des Hörers wachruft. Wie in allen seinen in den letzten Jahren geschaffenen Werken steht Strauß auch darin auf dem Boden der durch Berlioz, Wagner und Liszt begründeten neuen Musik. Aber er hat sich mit dem »Eulenspiegel« zu einer Selbständigkeit durchgerungen, die wir mit großer Freude begrüßen. Zeigt auch der musikalische Gehalt den Einfluß Liszt’s, die Instrumentationstechnik das eindringende Studium Berlioz’scher Partituren, so erscheinen diese Elemente so verschmolzen mit dem eigensten Wesen der künstlerischen Persönlichkeit Richard Strauß’, daß wir von Anfang bis zum Ende das Gefühl haben, einer wahren Originalschöpfung gegenüberzustehen. Und das will heute nicht wenig sagen! Die Grundstimmung dieser symphonischen Dichtung (sie verdient diesen Namen in jeder Hinsicht) bildet ein grotesker Humor. Mit meisterlicher Sicherheit stellt uns Strauß ein musikalisches Charakterbild seines mit leichtem Sinne und tollem Uebermuthe in alle Fährlichkeiten des Lebens sich begebenden Helden vor das geistige Auge und verbindet damit auch die Gestaltung der sich ihm entgegenstellenden Faktoren, die schließlich des armen Tropfes auch Herr werden. Dieses jämmerlich-tragische Ende seines Helden hat Strauß mit unvergleichlicher Bestimmtheit zum Ausdruck zu bringen verstanden. Hier erhebt sich der Tondichter nahe an die Sphäre weltüberwindenden Humors, als deren Meister Beethoven und Shakespeare dastehen. Das Verständniß des Werkes (wenigstens für das erstmalige Anhören) würde durch Beigabe eines kurz erläuternden Programms wesentlich erleichtert werden. Wir wissen wohl, welches Vorurtheil gegen eine solche Beihilfe gedanklicher Mittheilung noch in den Kreisen besteht, die da glauben, die Musik sei eine Kunst, die mit der übrigen Welt und dem Geistesleben überhaupt eigentlich nichts zu thun habe – die Geschichte ist aber über solche Ansichten längst zur Tagesordnung übergegangen, wie das die lebensfähigsten nach Beethoven geschaffenen Orchesterkompositionen (zu ihnen gehören auch die Mendelssohn’schen Ouverturen) beweisen, die sämmtlich dem Gebiete der arg verpönten Programm-Musik angehören. Und mit dem »Eulenspiegel« sind wir um ein höchst werthvolles Werk dieser Gattung reicher geworden. Sein Aufbau zeigt einen Meister des symphonischen Stiles. Wir meinen damit nicht nur die geradezu erstaunliche Polyphonie und Polyrhythmik in der Führung der Stimmen und den üppig glänzenden Farbenreichthum der Orchestration, sondern in erster Linie die Art wie das melodische Element, ohne an Individualität einzubüßen, der Form des Ganzen sich organisch einfügt. Das ist ein Mal wirklich eine Bethätigung jener »Ueberwindung des Stoffes durch die Form«, die nach Schiller’s Wort das Geheimniß des hohen Stiles der Kunst bildet. Besonders zu betonen ist es aber, daß sich Strauß in dem »Eulenspiegel« als wirklicher Erfinder erweist. Da sieht man wiederum, wie nur das deutliche Erschauen dichterischer Gestalten dazu führt, auch lebensvolle Melodien und Themen zu schaffen. Die Hauptthemen des »Eulenspiegel« haben eine ganz bestimmte plastische Physiognomie: nur aus einem grunddeutsch empfindenden Gemüthe konnten sie entstehen. Doch wir können uns nicht weiter über Einzelheiten verbreiten und fügen nur noch hinzu, daß das ungalublich schwierige Werk unter der Leitung des Komponisten von den Künstlern des Orchesters mit überlegener Sicherheit ausgeführt und von den den Odeonsaal in allen Räumen füllenden Zuhörern mit stürmischem Beifall aufgenommen wurde. […]
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»Musikalische Akademie.«
in: Münchner Neueste Nachrichten und Handels-Zeitung, Alpine und Sport-Zeitung. Theater und Kunst-Chronik., Jg. 48, Heft 556, Sonntag, 1. Dezember 1895, Rubrik »Theater und Musik.«, S. 4
relevant für die veröffentlichten Bände: III/7 Till Eulenspiegels lustige Streiche
Musikalische Akademie.