Lessmann, Otto
»Aus dem Konzertsaal.«
in: Allgemeine Musik-Zeitung . Wochenschrift für die Reform des Musiklebens der Gegenwart, Jg. 22, Heft 48, Freitag, 29. November 1895, S. 624–625

relevant für die veröffentlichten Bände: III/7 Till Eulenspiegels lustige Streiche
[624] Aus dem Konzertsaal.
Inhalt: III. Sinfonie-Konzert der kgl. Kapelle. – v. Radio u. Mildred Marsh. – Marie v. Unschuld. – Adele aus der Ohe. – v. Statzer. – Lilli Lehmann. – Jenny Alexander. – Frida Scotta. – Arthur Krass. – IV. Philh. Konzert. – Dr. H. Reimann. – Harold Bauer. – Charles Gregorowitsch. – Heinr. u. Marie Grahl. – Wohlthätigkeitskonzert.

Ein künstlerisches Ereigniß von nicht gewöhnlicher Bedeutung war die Aufführung von Rich. Strauß’ sinfonischer Dichtung »Till Eulenspiegel’s lustige Streiche« im dritten Sinfoniekonzert der königl. Kapelle. Unsere Leser haben vor drei Wochen eine Analyse des geistreichen, witzigen Werkes erhalten, so daß ich den musikalischen Inhalt und seine Beziehungen zu der poetischen Idee als bekannt voraussetzen darf, aber ein paar ergänzende Worte hinzuzufügen, sei mir doch gestattet. Strauß hat sein Werk bezeichnet: »Nach alter Schelmenweise – in Rondoform« –, eine Bezeichnung, die manchen Zuhörer stutzig gemacht haben soll. Sie erklärt sich aber mit dem Hinweise auf die Thatsache, daß unsere Klassiker, wenn sie künstlerisch ihrem guten Humor die Zügel schießen lassen wollten, dafür die Rondoform wählten. Dafür zeugen eine ganze Anzahl letzter Sinfoniesätze bei Haydn, Mozart und Beethoven. Nun hat ein jüngerer Meister den »Schelm« gespielt und dieselbe Weise angeschlagen, wie seine großen Vorgänger. Daß sein Werk anders ausschaut, als die der älteren Meister, ist bei der anders gearteten Kunstanschauung des Komponisten nicht zu verwundern, daß es sich aber als ein absolut fertiges, originales und packendes Meisterwerk zu erkennen geben werde, war kaum zu erwarten. Rich. Strauß hat mit seinem »Eulenspiegel« nicht nur in seiner eigenen Entwickelung einen gewaltigen Schritt vorwärts gethan, sondern er hat auch das Ausdrucksvermögen der Instrumentalmusik überhaupt erweitert, denn was ihm zu sagen meisterlich gelungen ist, haben weder Berlioz noch Liszt, die beiden Meister, die überhaupt in Betracht kommen, zu sagen vermocht. Strauß hat den Weg mit außerordentlichem Glück weiter geführt, den allerdings Liszt im dritten Satz der Faustsinfonie in wahrhaft genialer Weise zuerst angelegt hat; während indeß Liszt in jenem Mephisto-Satze alles Edle Faust’s und Gretchen’s dem teuflischen Hohn der »Spottgeburt aus D.... u.s.w.« überliefert, vermag Strauß dem bei aller Ausgelassenheit doch harmloseren, auch nach der Gemüthsseite hin nicht unfruchtbaren Humor des Erzschalks Till in vollendet charakteristischer Weise künstlerisch darzustellen, nicht nur in der thematischen Erfindung, sondern unter Anwendung einer beispiellos raffinirten Orchesterbehandlung und einer staunenswerthen Fülle rhythmischer und harmonischer Kühnheiten, wie sie vor Strauß Niemand gewagt hat und wie sie auch in Strauß’ früheren Werken (Macbeth, Don Juan, Tod und Verklärung) nicht zu finden sind. Und dabei erweist sich die Form festgefügt und klar und die Instrumentation bis auf ganz wenige Takte von bewundernswerther Durchsichtigkeit. Es ist wahr, dem Orchester sind Aufgaben im Ganzen und im [625] Einzelnen zugewiesen, wie sie weder Berlioz, noch Liszt und Wagner gestellt haben, aber wenn auch die Leistungsfähigkeit des Orchesters bis an die denkbar äußerste Grenze angespannt wird, so wird letztere doch nirgends überschritten, wie die unbeschreiblich glänzende Ausführung unter Weingartner’s Leitung dargethan hat. Dirigent und Orchester sind auf Schritt und Tritt der poetischen Idee des Komponisten gefolgt und haben sie in vollendet geistreicher Weise zum Ausdruck gebracht, mit urwüchsigem Humor, hinreißendem Feuer und bezaubernder Klangwirkung. Ich glaube, eine größere Leistung hat die kgl. Kapelle trotz so vieler herrlichster Darbietungen noch niemals zu Stande gebracht, und es wäre zu wünschen, daß das ebenso kühne wie geniale Werk nicht nur um der einen Aufführung willen einstudirt worden ist. Der sinfonischen Dichtung gingen die Brahms’schen Variationen über den Choral St. Antonii von Haydn und Volkmann’s etwas süßliche Serenade für Streichorchester voraus. Die Ausführung der Variationen ließ an Genauigkeit des Zusammenspiels zu wünschen übrig, in der Serenade aber, in der Herr Kammervirtuos Lübeck das Solo für Violoncello mit wundervollem Tone spielte, entwickelte der mächtige Streicherchor des Orchesters eine bewundernswerthe Schönheit des Ausdrucks und eine berauschend üppige Fülle des Klanges. Die Eroica-Sinfonie, die den Beschluß des interessanten Abends machte, erfuhr eine der Erhabenheit und Größe des Werkes völlig würdige Ausführung.

[…]

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Schenk, Stefan

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b45876 (Version 2025‑06‑04).

Versionsgeschichte (Permalinks)