Klatte, Wilhelm
»Aus Richard Strauss' Werkstatt«
in: Die Musik, Jg. 16 (1924), Heft 9 (Juni), Juni 1924, S. 636–641

relevant für die veröffentlichten Bände: III/7 Till Eulenspiegels lustige Streiche
[636] Aus Richard Strauss’ Werkstatt

[»]All Dichtkunst und Poeterei ist nichts als Wahrtraumdeuterei.« Und »das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes«. Es bedeutet aber das gleiche wie das Geheimnis des Schaffens.

Erkenntnisbrücken führen nicht ins Jenseits des Künstlers; doch sicht- und erkennbar gewordene Spuren geistigen Ringens lassen uns, wie das Gegenständlich-Handwerkliche der Deuterei eines Wahrtraums – zu glücklicher Zeit beobachtet und nachdenklich betrachtet – manches von drüben her er[637]raten, und wenn nicht in das Geheimnis des Schaffens, so doch in das Heimliche des Geschaffenen lugen.

Da ist von Belang, wie etwas Gestalt gewann, geformt, zugerichtet wurde; aber auch der verworfene Baustein ist wichtig. Wir sehen tiefer in den gemeißelten Anfangsgedanken des Eroica-Trauermarsches, wenn uns Skizzen erkennbar machen, wie Ausdruckswille und Ausdrückenkönnen allmählich zum Ausgleich gelangen, wie Endgültiges aus Vorläufigem erwächst. Und wenn wir, erfüllt von den beiden Sätzen der »Unvollendeten«, uns das als dritten Satz gedachte, fast fertig daliegende Scherzo klingend vorstellen, von dem Schubert sich abwandte, dann wissen wir, welch sicheren Schritt der Traumwandel des Schaffenden nahm, wissen, daß das, was in dem h-moll-Nachtstück und in den E-dur-Himmelsklängen ertönt – vollendet ist.

[…]

Till Eulenspiegel. – Frühlingsanfang 1894. Strauß dirigiert das letzte der durch Bülows Tod verwaisten Philharmonischen Konzerte zu Berlin. Die »Neunte« macht den Schluß. Zwischen der sonntäglichen Hauptprobe und dem Konzert am Montag geht es durch Berliner Gewirr, das als Intermezzo die Weimarer Beschaulichkeit reizvoll unterbricht. Der Abend gehört dem Theater; Halbes »Jugend« interessiert. Und wieder die Bühne: Operndichten [638] und -musizieren. Im bescheidenen Hotelzimmer werden Pläne umrissen. Der Koffer liefert Material; ein ansehnliches Manuskript kommt zutage: die Textdichtung zum ersten Akt der Musikkomödie »Till Eulenspiegel«. Das war nun eine überraschend ergötzliche Sache. Mit einem Pscht! Pscht!-Pianissimo sollte es beginnen: die Schildbürger sitzen vor ihrem fensterlosen Rathause und fangen die Sonnenstrahlen ein mit den abenteuerlichsten Geräten. Jeder glaubt es am besten zu machen und hält den anderen für einen ausgemachten Esel. Lärm von weitem. Ein landstreichender Schlingel ist gefangen worden; man schleppt ihn herbei, damit eine hohe Obrigkeit ihn für seine losen Streiche strafe. Eulenspiegel und die Schildbürger! Köstlich! Natürlich weiß er die Narren zum Narren zu halten, wie sich's gebührt, und das »Steinige!« verwandelt sich gemach in ein »Hurra!«und »Vivat!« Till ist König und kann alles fordern, was er will. Des Bürgermeisters Tochter ist ihm sicher. Was er sonst noch wünsche? »Ich möcht’ gern allein sein!« Abgang der anderen mit Kopfschütteln. Pianissimo-Finale, aber wohl in der Komplementärfarbe des Anfangs.

– – Auch nur ein Baustein? Ist dies Gebäude nicht schon ein Erkleckliches aus den Fundamenten herausgewachsen?

Was dem Dichter rasch gelang, mag vor dem prüfenden Blick des Musikers auf die Dauer nicht standgehalten haben. Je stärker der Gedanke des leibhaftigen Hinstellens der Schelmengestalt sich aufdrängte, sich mit Szenenentwurf und Textesworten aufdrängen mußte, um so weiter mochte der Abstand sich auftun zwischen ihr und der »musizierten« Figur, die nur Fantasie sein konnte, denn sie selbst war nicht, sie war nur die Personifikation einer Summe von losen Streichen. Lustiges geschehen lassen ohne gegenständlich Handelnde kann aber nur die mit ihren eigensten Mitteln frei schaltende Musik. Das wußten schon die »alten Schelme«; nicht nur der »Papa« Haydn, auch der seraphische Mozart und der olympische Beethoven. Und in ihrer Rondo-Weise, wie ein genialer Nachfahre sie auffing, erzählen nun die Töne, unbeschwert von Wort- und Kulissenzutaten, lustige Geschichten vom Schalksnarren, den die Fantasie dabei deutlicher sieht, als ihn in Schminke und Kostüm das Auge wahrnehmen würde. –

Der Anfangsgedanke des Eroica-Trauermarsches steht da, daß wir empfinden: anders konnte es nicht, so mußte es sein. Beethoven hatte zuvor mit dem »Anders-sein-Können« mancherlei zu schaffen. Den Helden seines inzwischen klassisch gewordenen Orchesterscherzos mußte Strauß erst aus Kulissenzauber befreien!

[…]

verantwortlich für die Edition dieses Dokuments: Schenk, Stefan

Zitierempfehlung

Richard Strauss Werke. Kritische Ausgabe – Online-Plattform, richard‑strauss‑ausgabe.de/b46053 (Version 2025‑06‑04).

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