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Lieber Freund!
Hänsel u. Gretel ist vom Intendanten so gut wie angenommen. Ich sprach gestern mit ihm, er gedenkt es zu Weihnachten zu geben. Die Partitur liegt bis jetzt bei Lassen, ich freue mich sehr darauf, Dein famoses Werkchen kennen zu lernen u. setze Alles dran, es hier herauszubringen.
Wie geht es Dir sonst, lieber Freund?
Mir miserabel! Nun mit prächtigster Gesundheit ausgestattet, sieche ich in dem traurigen Neste Weimar u. in unseren elenden deutschen Kunstzuständen, die nach Egyptens Pracht mich doppelt grau u. neblig anschauen, krank an Kopf u. Herzen dahin. Mit meiner hiesigen Stellung auf’s äußerste unzufrieden, bange ich beinahe, wenn [1v] ich sie verlasse, woanders noch größere Misère zu finden.
Eine neue Wendung in meiner Münchner Engagementsangelegenheit, von der Du wohl durch Frau Wagner gehört hast, veranlaßt mich, Dich vertraulich zu fragen, ob nicht doch eine Möglichkeit besteht, daß ich als I. Kapellmeister nach Frankfurt kom̅e. Ich bin bereit, jeden Augenblick selbst nach Frankfurt zu fahren, um mit Claar Rücksprache zu nehmen.
Goltermann ist doch weg, u. der neue Dr – wie heißt er? Ronneberger? qualifizirt sich der als I. Kapellmeister? Bitte, gibt mir baldigst drüber Nachricht! Vielleicht sprichst Du selbst mit Claar?
Mein Guntram ist fix u. fertig in Partitur u. soll Anfang Februar in München sein! Ich habe 3 Akte (500 Partiturseiten) in 6 Monaten instrumentirt! Ich glaube, Du wirst Dich über das Partitürchen freun! Es ist nicht uninteressant, sehr sauber und polyphon! Sollte ich jetzt einmal nach Frankfurt kom̅en, so spiele ich Dir’s vor! Wenn Dir dran was liegt, so inscenire mir – eine Veranlassung, nach Frankfurt zu kom̅en! Dann erzähle ich Dir auch, warum ich schließlich doch nicht nach München als Kapellmeister gehen will, die Sache schwebt ja noch – aber ich möchte jetzt rasch, entweder so oder so ein Ende machen! Na darüber mündlich!
Über der Partitur Deines Hänsel sitzend, werde ich im Geiste bei Dir sitzen u. mir von Dir ein liebes, kleines Mährchen erzählen lassen!
Leb wohl u. sei herzlich gegrüsst von
Deinem stets getreuen
Rich. Strauss.