Deutsche Wacht, A.-G.
Fernsprechamt III, Nr. 4089
Circusstraße Nr. 37.
Liebster Freund!
Anbei hast Du nun gleich mein ausführlich motiviertes Urteil – eine ganze Abhandlung, wie immer, wenn der Seidl sich über etwas Großes macht, und zumal, wenn er sich mit seinem l. ihm so sehr ans Herz gewachsenen Strauß befaßt! Ich bin nun wirklich nicht wenig stolz, seit ich es nun auch noch gehört habe, auf die trauliche Widmung, und was ich Dir bei diesem Werke besonders hoch anrechne und mich ganz ausnehmend diesmal entzückt hat, das ist der durchgehend freie, lebendige Fluß in der Gestaltung des Ganzen, sowie die zunehmende Enthaltsamkeit in (früher oft noch etwas zu sehr überhand nehmenden) wohlfeilen Wagner-Liszt’schen Schusterfleck-Sequenzen. Es gibt eine Menge Leute, die Dich außerordentlich schätzen, Deinen Geist und Deine Meisterschaft ehrlich bewundern und sich Hochbedeutendes auch in aller Zukunft von Dir erwarten, aber [1v] doch in Deinen Themen und Motiven Individualität: (»Das kann kein Andrer als Strauß sein!«) vermissen-wollen. Da bin ich nun anders; ich finde den Individual-Zauber Deines persönlichen Geistes vornehmlich darin, daß jedes Deiner großen neueren Werke eine so scharfausgeprägte, prägnante Physiognomie zur Schau trägt und eine festumrissene, besondere, in sich selbst abgeschlossene Welt für sich ist. Das aber kann, da Deine Schöpfungen absolut nur aus den kleinen Themen herauswachsen, schließlich aber doch nur in den Motiven liegen und ergo müssen schon diese den Stempel Deiner Individualität an sich tragen, wenn sie auch die Andre[n] noch nicht sehen können und bisher noch nicht als solche zu erfassen gelernt haben. College Söhle nennt Dich seit gestern, übrigens in aufrichtigster, wärmster Verehrung, fortwährend den »Deutschen Berlioz« – das ist nach einer Seite hin wohl nicht ganz unrichtig, er trifft damit aber natürlich noch nicht den Kern Deines ganzen Wesens, da er DichDeine sprudelnde Natur ja persönlich noch gar nicht von Deinerihrer starkquellenden Gemüthseite her kennt. Daß diesmal die durch [2r] das äußere Programm gegebene Form zugleich eben wieder auf die (wenn immer auch freier behandelte) alte Rondoform zutrifft, erscheint mir als der eigentliche geniale Hauptwitz an der Sache – ein wahrhaft köstlicher Schlauberger Strauß von Geistes Gnaden! Meine ausführlichen Erörterungen über das Opernproblem laß Dich dabei, bitte, nicht verdrießen; sie sind ganz anspruchslos und jedenfalls durchaus freundschaftlich, mehr zur geistigen Anregung des Nachdenkens über Sinn und Gehalt des Stoffes für weitere Kreise gemeint. Freilich, wenn wir den zer sittlich triumphierenden, überlegenen Geist der Schildbürgerei gegenüber stellen – wie wär's dann mit dem Nietzsche'schen »Übermenschen« und dem auf dem Erdboden kriechenden Pygmäen-GekreucheGeschmeiß? Diese aktuelle Idee ließe sich doch wohl daran im modernen Sinne herausbildenholen, denn liegt sie auch nicht ursprünglich darin, so steckt doch die Potenz dazu in der Sage. So hat ja doch auch Wagner gearbeitet und bisher unentdeckte Beziehungen mit dem philosophischen Bewußtsein der Zeit aus den alten Volksdichtungen neu herausgebildet! – Nur so viel als Ergänzung zu dem Schwarz auf Weiß aus tief[2v]ster Überzeugung gedruckten, unter den herzlichsten Weihnachtsgrüßen von Haus zu Haus und dankbar getreuem Händedruck nochmals von Deinem, unentwegt um das Festgeschenk der deutschen Oper »Till Eulenspiegel« betendenalten Arthur Seidl.